Heilpädagogik
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Musiktherapie in der Heil- und Sonderpädagogik
Musiktherapie ist seit Jahrzehnten Bestandteil des therapeutischen Förderangebotes für Kinder und Jugendliche mit Entwicklungsstörungen und Behinderungen. Das musikalische Angebot und gemeinsame Musizieren im Rahmen der Musiktherapie ermöglichen den Patienten entwicklungsfördernde Erfahrungen. Als psychotherapeutisches Verfahren dient es darüber hinaus der Bearbeitung psychischer Störungen und Krankheitsbilder von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen. Das soziale Umfeld (Familie, Betreuungspersonal) wird je nach Bedarf in die Therapie mit eingebunden oder begleitend beraten.
Musiktherapie ist häufig Bestandteil des therapeutischen Angebotes von Frühförderstellen, Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) oder heil- und sonderpädagogischen Einrichtungen.
Die Therapieziele werden individuell formuliert und die musiktherapeutischen Interventionen den Bedarfen angepasst. Dabei können neben der psychischen Befindlichkeit auch die Motivation zu vokalen/verbalen Ausdruck oder zur Bewegung im Fokus stehen.
Musikalisch kann eine große Bandbreite angeboten werden: Singen und Tanzen bekannter (Spiel-)Lieder, frei erfundene zur Situation passende Lieder bis hin zum freien Improvisieren mit Instrumenten. Die multisensorische Verwendung von Klangangeboten, wie Kastanien auf einer großen Trommel oder die gesungene Bewegungsbegleitung beim Schaukeln auf dem Schoß oder der Hängematte ermöglichen die Verknüpfung unterschiedlicher Sinneswahrnehmungen.
Dabei wird dem Kind/Jugendlichen der Raum zur Eigeninitiative gegeben: es kann sich seine Instrumente suchen, der/die Musiktherapeut*in begleitet und unterstützt das Kind dabei, auch musikalisch. Die im Spiel entstehenden Klänge, Lieder oder „Musikstücke“ sind auch Ausdruck der momentanen Befindlichkeit des Kindes/Jugendlichen. Hier fließen auch vergangene Erfahrungen und Wünsche mit ein, die der/die Musiktherapeut*in auf einer nonverbalen Ebene beantworten und bearbeiten kann. Das bedingungslose Annehmen und Reagieren auf die emotionalen Äußerungen ermöglichen neue Erfahrungen und Veränderungen auch im Spiel. Die im musiktherapeutischen Setting zu beobachtenden Entwicklungsschritte werden im Laufe der Zeit auf andere Lebensbereiche übertragen.
Kindern/Jugendlichen, die aufgrund der Schwere ihrer Behinderung (noch) nicht zur Eigeninitiative in der Lage sind, bekommen Klangerfahrungen/Musik vorgespielt, zum Teil auch sensorisch spürbar wie bei einer Klangwiege. Dabei reagiert der/die Musiktherapeut*in auf kleinste Veränderungen in Mimik oder Atmung, um dem Kind/Jugendlichen das Erleben von Selbstwirksamkeit zu ermöglichen.
Musiktherapie eignet sich besonders für Kinder/Jugendliche, die …
- sich in Kontakt und Kommunikation mit Mitmenschen schwer tun.
- sich eher zurückziehen und ängstlich sind.
- passiv auf Anforderungen ihrer Umwelt reagieren.
- die ihre Emotionen nicht regulieren können und schnell aggressiv werden.
- hinter ihren eigentlichen Möglichkeiten zurück bleiben.
Das gemeinsame Musizieren im musiktherapeutischen Setting stärkt die Persönlichkeit und kann zu mehr Ausgeglichenheit und Zufriedenheit führen.
Autorin: Frauke Schwaiblmair, 2019
Fallvignette
Barbara, ein 9-jähriges, geistig behindertes Mädchen, wurde von pädagogischen Mitarbeitern und einer therapeutischen Kollegin für die Musiktherapie vorgeschlagen.
Das Mädchen befand sich in einer Sackgasse: Sie verdarb es sich mit vielen Menschen, beschimpfte, verfluchte, verlachte oder bespuckte ihre Umgebung und stand so ohne Freunde, insbesondere ohne jegliche liebevolle Kontakte in Schule und heilpädagogischer Tagesstätte da.
In der Musiktherapie zeichneten wir zunächst das, was sie wollte, einander am Tisch gegenübersitzend, wie in einer abgebrochenen Therapie zuvor. Im Hintergrund lief Musik vom Band, wir summten, brummten und blödelten mit oder sangen ihre Lieblingslieder. Barbara wurde ausgelassener, erlaubte sich dann alles: So zerstörte sie z. B. meine gezeichneten Kopien ihrer eigenen Bilder, verlachte meine Empfindungen. So vor den Kopf gestoßen, spielte ich manchmal Gitarre, anfangs zurückhaltende, später lustiger werdende Lieder über ihre Frechheit, aber auch über das, was sie Schönes tue. Musikalisch begleitet, ging sie öfters vorsichtig vom Tisch weg, Musikinstrumente anspielend, die stimmungsvolle Hintergrundmusik und die „Situationslieder” des Musiktherapeuten annehmend und zunehmend nutzend.
Sie bewegte sich nun vertrauensvoller im Therapieraum, bis sie auch zu sehnsuchtsvollen, traurigen Liedern mit Tränen in den Augen tanzte.
Sie fühlte nun mit der Musik mit, wurde weicher, beweinte den Tod des Löwenvaters in der Geschichte vom „König der Löwen”, entdeckte ihre eigene Traurigkeit.
Nach 2 Jahren konnte die Musiktherapie beendet werden. Die Musik in der Musiktherapie hat das zunächst vor den Kopf stoßende Verhalten ausgehalten, nahm es auf, verstummte nicht deswegen. Und Barbara konnte sich dem reichhaltigen Spektrum der Musik öffnen, ihre abgewehrten, verlachten Gefühle integrieren und aus ihrer Sackgasse mit neuer Bewegung herausfinden.
Barbara geht es weiterhin gut, sie ist eine lebensfrohe, kontaktfreudige Jugendliche.