Durch Musiktherapie zurück zu alten Fähigkeiten

Musical Speech Stimulation (MUSTIM)® bei Aphasie

Anamnese

Der 69-Jährige Herr M. ist infolge eines Schlaganfalls von einer schweren Sprachstörung betroffen. Dieses – auch als unflüssige Aphasie bezeichnete klinische Bild – zeigt sich bei ihm mit Auswirkungen in den Bereichen Sprechen, Lesen, Schreiben und Verstehen. Dadurch kommt es bei Herrn M. beim Sprechen zu Beeinträchtigungen in der Wortfindung, zu falschen oder unverständlichen Wörtern, einem stockenden Redefluss und grammatikalischen Einbußen. Außerdem bestehen Einschränkungen in der Planung von Sprechbewegungen. Während seines Rehabilitationsaufenthaltes erhält Herr M. mehrere aktivierende Therapien, darunter Sprachtherapie und Musiktherapie.

Im musiktherapeutischen Erstkontakt zeigt sich mir ein freundlicher Mann mit intellektueller Ausstrahlung und einer positiven inneren Haltung. Herrn M. gelingen einzelne Wortäußerungen. Sein Sprachverständnis ist situativ gut erhalten. Im Umgang mit Tablet und Smartphone wirkt er technisch versiert und neuen Medien gegenüber aufgeschlossen. Herr M. bringt die Geräte gelegentlich mit in die Therapie und tippt einzelne Wörter, auf die er sprachlich keinen Zugriff hat, in eine logopädische App ein. Das erleichtert die Verständigung etwas.

Behandlungsverlauf

Herr M. erhält über einen Zeitraum von zwei Monaten zwei Mal pro Woche dreißig Minuten Einzelmusiktherapie. Da er mit Blick auf seine Lebenssituation zuversichtlich und gefasst erscheint und sein persönliches Ziel für die Musiktherapie die Verbesserung der Sprachproduktion ist, entscheide ich mich für einen funktional spezifischen Ansatz der Musiktherapie.

Im Rahmen der Neurologic Music Therapy (NMT)® nach Thaut wende ich eine Technik aus dem Bereich des Sprach- und Sprechtrainings an: Musical Speech Stimulation (MUSTIM)®. Diese musikbasierte Sprechstimulation hat das Ziel, die Sprachproduktion so zu trainieren, dass das Sprechen zur Situation flexibel und an der richtigen Stelle erfolgt. Dabei singt die Therapeutin Lieder an, stoppt kurz vor dem letzten Wort oder nach einem Vers und der Klient ergänzt das fehlende Wort oder den nachfolgenden Halbsatz.

In den ersten Therapiestunden singe ich mit Herrn M. eingängige Kinder- und Volkslieder, die er in Bezug auf den Text vollständig, flüssig und gut verständlich mitsingen kann. Lieder ohne Begleitung alleine zu singen oder den Liedtext rhythmisch sprechend wiederzugeben, meistert Herr M. mühelos. Deshalb gehe ich nach und nach dazu über, einzelne Verse anzusingen, die Herr M. beim Singen erst wort-, dann versweise, vervollständigt. Hin und wieder unterstütze ich ihn bei den Anfangsbuchstaben einzelner Wörter mit initialer Anlauthilfe.

Nach dem Singen animiere ich Herrn M. dazu, ein paar Kernwörter aus den Strophen erneut zu sprechen, das Songthema zu benennen, den Inhalt der Strophe zusammenzufassen oder mir von biographischen Erlebnissen zu erzählen, die für ihn mit dem Lied in Verbindung stehen. Auf diese Weise gestaltet sich der verbale Austausch abwechslungsreich und interessant. Ein sprachlicher Transfer aus der Singübung heraus wird möglich.

In einem unserer Gespräche frage ich Herrn M. nach seinen Erfahrungen zum Thema Heimwerken. Langsam, stockend und gleichzeitig hoch konzentriert sucht er nach Wörtern und sagt dann: „Malern“ und benennt fünf Zimmer in seinem Zuhause. Ein weiterer, dazu thematisch passender Begriff, lässt ihn innehalten und nach Worten suchen. Kurzerhand reiche ich ihm Zettel und Stift und er notiert in großen Buchstaben: „TAPETE“.

Das Hinzunehmen von visuellen und schriftlichen Arbeitshilfen regt bei Herrn M. weitere Wortassoziationen an und erweist sich für die Verständigung als hilfreich. In Anbetracht von Herrn M.s Fähigkeit, Informationen mittels Lesen aufzunehmen, können wir im weiteren Verlauf der Therapie digitale Musikportale einbeziehen und mit Songtexten arbeiten, die Herrn M. weniger bekannt sind. Diese dienen als Anregung für ein Eigentraining außerhalb der Therapiezeiten und als weitere Übungsmöglichkeit für zu Hause. Während des Singens reduziere ich das Abspieltempo der Musikstücke. Auf diese Weise wird eine deutliche und verständliche Aussprache unterstützt.

Schließlich gehen wir dazu über, in einem musikalischen Frage-Antwort-Dialog alltagsrelevante Fragen und Antworten in Lieder einzubauen. Während ich beispielsweise auf die Anfangsmelodie von Alle Vögel sind schon da eine Frage wie: „Kriegen wir nachher Besuch?“ singe, reagiert Herr M. spontan mit einem Antwortsatz wie: „Ja, das kann schon sein“. Nach und nach folgen weitere Frage-Antwortsätze dieser Art. Diese dritte Variante der Technik MUSTIM® fordert Herrn M. sprachlich am meisten heraus, beim Üben wirkt er sehr konzentriert. Zugleich erlebe ich ihn einfallsreich und sprachgewandt. Hin und wieder enthalten seine Antworten komplexe, mehrsilbige Wörter. Der natürliche Sprechrhythmus und die melodische Struktur im Lied stellen eine Art Gerüst dar, mit dessen Hilfe er in der Lage ist, einfache passende Sätze selbst zu strukturieren und hervorzubringen.

Fallbeispiel Schlaganfallpatient - Session

Ausblick

Mehrere Wochen später haben sich sowohl der Wortabruf als auch die verbale Spontanproduktion deutlich verbessert. Aus der anfänglich schweren Aphasie ist nun – auch angesichts der genau auf ihn angepassten Therapiestruktur – eine Sprachproduktionsstörung mittleren Grades geworden.

Herr M. ist jetzt in der Lage, in kurzen Sätzen einfache Sachverhalte zu alltäglichen Themen zu äußern. Das erleichtert ihm die Kommunikation, indem er wieder seine Bedürfnisse mitteilen, Telefonate entgegennehmen, E-Mails schreiben oder die Zeitung lesen kann. Andere sprachliche Parameter, wie der Sprechfluss oder ein grammatikalisch korrektes Sprechen, bleiben für ihn weiterhin herausfordernd.

Die positiven Veränderungen haben Auswirkungen auf seine Gemütslage. Herr M. wirkt in unseren Begegnungen aufgelockerter und humorvoller und berichtet von mehr Aktivität und sozialer Teilhabe außerhalb der Therapiezeiten, wie zum Beispiel durch mehr Kontakt zu anderen Mitpatienten.

Bei unserem Abschluss gebe ich Herrn M. die Kontaktdaten einer ambulanten Musiktherapie-Praxis in Wohnortnähe mit. Da es bei ihm wohnortnah bisher noch keinen Aphasiker-Chor gibt, empfehle ich ihm für das weitere Eigentraining die Nutzung von Online-Liederbüchern und Musikportalen.

Fazit

Im therapeutischen Setting kann die Technik MUSTIM® bei einer Aphasie einen stimulierenden Ansatz darstellen, der die Neuorganisation der Sprachfähigkeit fördert und die Sprachproduktion unterstützt. Singen regt hierbei einen emotionalen und motivationalen Prozess an und ermöglicht Betroffenen die Anbahnung sozialer Interaktion sowie die gezielte Förderung von Kommunikation und Dialogfähigkeit im sicheren haltgebenden therapeutischen Rahmen. Auf diese Weise werden so vor dem Hintergrund der Sprachstörung ein Ausprobieren und erste Schritte auf unbekanntem Terrain möglich.

Die Autorin

Elke Rohde

Elke Rohde

Elke Rohde ist seit 2012 als Musiktherapeutin (M.A., NMT-F, DMtG) in der Fachabteilung Neurologie der Diana_Klinik Bad Bevensen tätig. Ihr Musiktherapiestudium absolvierte sie in Frankfurt (Main). Durch verschiedene Fortbildungen, wie in Musiktherapeutischer Tiefenentspannung (MTE), Neurologic Music Therapy (NMT)®, Neurotango® und Drums Alive® hat Elke Rohde das Methodenrepertoire in ihrer praktischen Arbeit um mehrere musikbasierte, funktionale Behandlungsansätze erweitert. Gemeinsam mit dem Musiktherapeuten Stefan Mainka leitet sie eine Online Intervisionsgruppe für Neurologische Musiktherapeut*innen (NMT)®.

Links:
https://www.diana-klinik.de/
https://mit-musik-geht-reha-besser.de/nmt-online-intervision

Fotos: Copyright Diana_Klinik