Ethik in progress. Ethisches Denken in der Musiktherapie Header. Foto von Thomas Stegemann

Ethik in progress. Ethisches Denken in der Musiktherapie Teil 2

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Nachdem wir im April als Ethikkommission der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft (DMTG) in unserem ersten Blogbeitrag unsere neue Reihe „Ethik in Progress. Ethisches Denken in der Musiktherapie“ vorgestellt haben, soll nun im zweiten Teil eines von fünf Prinzipien des „Code of Ethics“ der American Music Therapy Association (AMTA) dargestellt und erläutert werden.

Verantwortungsbewusst handeln?

Der Code of Ethics der AMTA (hier die Originalversion) zeichnet sich durch seine Formulierung in Geboten aus. Er beschreibt eine „Best Practice“ musiktherapeutischen Handelns, das als eine Art Leitplanke für das eigene Tun verstanden werden kann, und gliedert sich in fünf ethische Prinzipien.

Das im Folgenden behandelte ethische Prinzip lautet „Be accountable“. In diversen Online-Wörterbüchern finden sich hierfür unterschiedliche deutsche Übersetzungen, wie z.B. „zur Verantwortung gezogen werden können“, „verantwortlich sein“, „Rechenschaft ablegen“ oder „nachvollziehbar“ sein. Im Folgenden wird die Formulierung „verantwortungsbewusst handeln“ verwendet, da sie ein recht breites Spektrum der beschriebenen Bedeutungsnuancierungen beinhaltet.

„Verantwortungsbewusst handeln“ umfasst laut AMTA die Verpflichtung von Musiktherapeut:innen zu berichten, sich zu erklären und sich für entstehende Konsequenzen verantwortlich zu zeigen. Dies fördere das Vertrauen und stärke die Arbeitsbeziehungen zu Kolleg:innen sowie die therapeutische Beziehung zu Klient:innen. Des Weiteren formuliert die AMTA: „The music therapist will be honest, fair, accurate, respectful, timely, and maintain privacy in all interactions”. Auf eine wörtliche Übersetzung soll an dieser Stelle zugunsten einer frei umschriebenen, leicht überspitzten Interpretation verzichtet werden: Musiktherapeut:innen verhalten sich einfach wie die Instagram-Version ihrer Selbst – offen und ehrlich, sorgfältig, pünktlich, höflich und korrekt, stets bestens organisiert und innerpsychisch so gut aufgestellt, dass sie anstrengende oder belastende Therapiestunden mit einem „Sonnengruß“ und einer Tasse Chai-Latte leicht wegatmen können.

Glücklicherweise liefert die AMTA eine in 14 Unterpunkten ausdifferenzierte Darstellung dazu, wie das Prinzip des verantwortungsbewussten Handelns in der Berufspraxis umgesetzt werden soll. Im Folgenden werden nicht alle Punkte erläutert, sondern lediglich einige herausgegriffen und anhand von Fallvignetten veranschaulicht.

Fallvignette “Whatsapp-Gruppe”

Das multiprofessionelle therapeutische Team einer Psychiatrie sucht aufgrund fehlender Dienstzeitüberschneidungen nach einem möglichst effizienten und praktikablen Weg des Informationsaustausches („Übergabe“) über zu behandelnde Patient:innen. Aufgrund fehlender Alternativen wird entschieden, über eine bereits vorhandene WhatsApp-Gruppe zu kommunizieren, was einen niederschwelligen Weg darstellen und so die Therapeut:innen entlasten soll. Doch werden über diesen Kommunikationsweg Patient:innendaten auf einer nicht DSGVO-konformen Plattform weitergegeben. (Die Datenschutz-Grundverordnung der Europäischen Union zur Verarbeitung personenbezogener Daten findet Anwendung seit 25. Mai 2018). Die Personengruppe, die mitliest, ist bis auf wenige Ausnahmen nicht an der Behandlung beteiligt, somit auch nicht berechtigt, auf die Daten zuzugreifen und – auch wenn keine Namen genannt werden – ist nicht auszuschließen, dass aufgrund der Fülle an Informationen auch Rückschlüsse auf die Identität der Patient:innen gezogen werden können. Es besteht für die Musiktherapeutin der Psychiatrie keine Notwendigkeit an diesen Übergaben teilzuhaben, sie ist jedoch Mitglied der WhatsApp-Gruppe. Wie soll sie sich verhalten?

Allein an diesem Beispiel werden fünf der 14 Unterpunkte des Prinzips „verantwortungsbewusst handeln“ berührt:

  • Musiktherapeut:innen richten sich nach den geltenden Gesetzen.
  • Musiktherapeut:innen identifizieren Fehler oder unerwünschte bzw. auffällige Ereignisse, die die Sicherheit von Klient:innen gefährden und legen diese offen.
  • Musiktherapeut:innen melden den Behörden jedwede illegalen Vorkommnisse.
  • Musiktherapeut:innen sind besonders bei elektronischer (wie auch schriftlicher und mündlicher) Kommunikation vorsichtig und aufmerksam bezüglich des möglichen, ungewollten Zugriffs Dritter oder gar einer Öffentlichkeit.
  • Musiktherapeut:innen kennen den Ethikkodex, handeln nach ihm und melden festgestellte Verstöße an die Ethikkommission.

Mit Maß und Ziel

Betrachtet man diese Aspekte, stellt sich kaum noch die Frage, ob die Musiktherapeutin etwas gegen diese Regelung unternehmen, sondern eher, in welcher Weise sie das tun sollte. Möglicherweise wäre es wenig förderlich gleich übergeordnete Instanzen einzuschalten (Klinikleitung, Aufsichtsbehörden), da dies im Team zu Widerstand und Ablehnung führen und vermutlich eine selbstkritische Auseinandersetzung eher behindern würde. Das Ansprechen der eigenen Bedenken im Rahmen einer Teamsitzung hingegen, könnte möglicherweise Tür-öffnend wirken und somit nachhaltig das ethische Denken im Team anregen. Vielleicht läge das Ergebnis in der Realität irgendwo inmitten dieses Spannungsfeldes.

Umgang mit Klient:innen

Andere Aspekte des Prinzips „verantwortungsbewusst handeln“ beschäftigen sich mit dem Verhalten gegenüber Klient:innen. Beispielsweise geht es um die Aufklärung über die eigene Qualifikation:

  • Musiktherapeut:innen sollen potenzielle und gegenwärtige Klient:innen über ihre Qualifikation informieren und sind angehalten, sich stets weiterzubilden.
  • Zudem sollen sie nur solche Leistungen anbieten, die der eigenen Ausbildung und dem Tätigkeitsbereich angemessen sind.

Zunächst möchte man denken, dies seien selbstverständliche Aspekte – natürlich komme ich als Musiktherapeutin in eigener Praxis nicht auf die Idee, eine:r Patient:in mit neuem Hüftgelenk Physiotherapie anzubieten.

Fallvignetten “Treppensteigen” und “letzte Hoffnung”

Wie verhalte ich mich jedoch, wenn im Rahmen eines Klinikaufenthaltes eine Patientin dringend das Treppensteigen üben möchte, die Physiotherapeutin Urlaub hat und nun meine Vorgesetzte mir als Musiktherapeutin diesen Auftrag erteilt?
Oder aber ein:e potenzielle:r Klient:in stellt sich mit schwerwiegenden psychiatrischen Erkrankungen in meiner musiktherapeutischen Praxis vor, sagt, er:sie habe das Vertrauen in Psychiater:innen verloren, wolle außer homöopathischen Substanzen auch keine Medikamente mehr nehmen und setze alle Hoffnung auf die musiktherapeutische Behandlung.

Bezogen auf beide Fallvignetten spielt im Code of Ethics der AMTA Transparenz eine große Rolle: Ein verantwortungsvoller Umgang mit der eigenen Ausübung der Berufspraxis hängt mit einer nachvollziehbaren Kommunikation des eigenen Profils und des eigenen Möglichkeitsrahmens zusammen. In der Fallvignette „Treppensteigen“ geht es neben der Sensibilität für die eigenen Grenzen zudem um die Verteidigung dieser gegenüber Vorgesetzten. Der Code of Ethics (bzw. in diesem Fall natürlich auch der Ethikkodex der DMTG, auf den am Schluss noch eingegangen wird), kann hierfür als Argumentationsgrundlage dienen.

Aufklärung über Behandlungsergebnisse

In der Fallvignette „Letzte Hoffnung“ käme zudem zum Tragen, dass der Code of Ethics vorschreibt, Klient:innen sollten genau, umfassend und objektiv über zu erwartende Behandlungsergebnisse informiert werden. Ein solcher Umgang setzt eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit dem Patient:innen-Anliegen voraus, was auch davor schützen kann, einen nicht zu dem eigenen Profil passenden Auftrag anzunehmen, quasi in eine Behandlung „hineinzurutschen“.

Dabei sind bezogen auf dieses Beispiel sicherlich Szenarien denkbar, in denen dies passieren könnte. Die Patientin baut Druck auf, indem sie alle anderen Behandlungsmöglichkeiten kategorisch ausschließt, woraus sich vorstellbare Gründe ergeben könnten, eine solche Behandlung in Betracht zu ziehen. Das Eruieren möglicher Behandlungsergebnisse mag nicht nur in diesem Fall als eine Art Gegengewicht dienen, das bei einer derart schwierigen Entscheidung in die Waagschale geworfen werden sollte. Hier dient ethisch korrektes Vorgehen automatisch als Wegweiser oder, wie bereits oben benannt, als Leitplanke für das eigene Tun.“

Gebote statt Verbote

Die meisten der genannten Punkte finden sich auch im 2022 überarbeiteten Ethikkodex der DMTG – mit anderen Nuancierungen. So ist beispielsweise der oben beschriebene Aspekt der Transparenz in unserem Ethikkodex in Form von Verboten formuliert. In § 4.3. findet sich folgender Wortlaut:

„Die Mitglieder der DMtG verpflichten sich, anpreisende, irreführende oder vergleichende Werbung zu unterlassen“.

Während § 4.4. beschreibt, Mitglieder der DMTG dürften keine Behandlung durchführen,

„wenn sie hierzu nicht über die erforderliche Kompetenz verfügen und/oder wenn sie aus körperlichen oder seelischen Gründen dazu nicht in der Lage sind.“

Um es mit dem Volksmund zu umschreiben: Unser Ethikkodex bietet getreu dem Motto „Aus Fehlern wird man klug, drum ist einer nicht genug“ eine Art Handlungsleitlinie anhand von Ermahnungen. „Tu dieses oder jenes nicht“ beinhaltet dabei natürlich automatisch auch einen anderen, korrekteren Weg. Die Orientierung an ethischen Prinzipien, die als Gebote formuliert sind, wie die AMTA dies in ihrem Code of Ethics umsetzt, funktioniert hingegen ohne Umwege, weshalb ein Hineinlesen sicherlich gewinnbringend ist.

Fazit

Eins ist jedoch in jedem Fall klar: Musiktherapeut:innen müssen keine perfekte, „instagram-taugliche“ Arbeit abliefern. Wichtig ist, dass sie sich mit ihrer eigenen Vorstellung von verantwortungsbewusstem Handeln auseinandersetzen – möglicherweise nach einem Winnicott‘schen „good enough“ strebend.

Literatur

American Music Therapy Association (AMTA). www.musictherapy.orgCode of Ethics (Ethikkodex).

Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft (DMTG) – Ethikkodex (Stand: November 2022).

Eckhard Weymann. Ethik in progress. Ethisches Denken in der Musiktherapie (1. Teil, 11. April 2024).

Stegemann, Thomas & Weymann, Eckhard (2019). Ethik in der Musiktherapie. Grundlagen und Praxis. Gießen: Psychosozial (Siehe auch den Blogbeitrag der Autoren “Ethik in der Musiktherapie – in den Zeiten der Coronakrise” vom 22. Mai 2020).

Headerfoto: Thomas Stegemann

 

Picture of Christina Scheer

Christina Scheer

Christina Scheer ist zertifizierte Musiktherapeutin DMTG und hat vor ihrem Masterabschluss in Musiktherapie an der HfMT Hamburg, Instrumental­pädagogik und Elementare Musikpädagogik (BoM) an der Hochschule für Musik Saar studiert. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Palliative Care, der Arbeit mit Menschen mit Abhängigkeits­erkrankungen sowie im Feld (Sozial-)Psychiatrie. Sie ist seit 2021 Mitglied der Ethikkommission der DMTG.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Moser David

    Wow, sehr anregend – vielen Dank!

    1. Bettina Eichmanns für die Redaktion

      Danke Herr Moser für Ihren Kommentar!

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