Ethik in progress. Ethisches Denken in der Musiktherapie Header. Foto von Thomas Stegemann

Ethik in progress. Ethisches Denken in der Musiktherapie

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Ethik küsst Ästhetik.

In der Schweiz gibt es eine Kette von Geschäften, die mit diesem Slogan werben. Es werden dort Waren verkauft, die „ethisch“ in Ordnung sind. Und außerdem sollen die Sachen auch noch schön sein, was ja die landläufige Bedeutung von „ästhetisch“ wäre. „Ethik“ ist heute zum Schlagwort geworden: ethisch ist gut. Der Slogan könnte also auch lapidar in „gut und schön“ übertragen werden. Doch hier müssen wir nachfragen: Wie ist das „gut“ denn bestimmt worden? Gibt es das Gute schlechthin? Gut für wen? In welcher Hinsicht ist „ethisch“ gedacht und vorgegangen worden? Und siehe da: Das erwähnte Unternehmen stellt auf seiner Homepage die Kriterien dar, mit denen die Waren bewertet werden. Sie sind etwa fair und respektvoll gehandelt und umweltfreundlich angebaut oder hergestellt worden.

Wie soll ich handeln?

Ethik ist ein Teilgebiet der Praktischen Philosophie, die sich für das menschliche Handeln interessiert. Die Bedeutung des Begriffs Ethik kann in die Frage gefasst werden: „Wie soll ich handeln?“ Das Nachdenken darüber führt dazu, dass das eigene Handeln nicht einfach der Gewohnheit, dem Gefühl oder irgendwelchen Regeln folgt. Es kann hinterfragt und mit Hilfe von Kriterien, für die man sich entschieden hat, bewertet werden. Und hier sind wir endlich auch bei der Ethik für Musiktherapeut:innen in der Praxis und in der Ausbildung angekommen. Dort haben wir ständig mit zwischenmenschlichen Beziehungen umzugehen, mit einem einflussreichen Medium, mit Rollenmacht und so weiter – Gegebenheiten, die der Reflexion bedürfen.

Ethikkommission und Ethikkodex

Als Orientierung hat sich die Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft (DMtG) – wie auch vergleichbare Berufsorganisationen – einen Ethikkodex gegeben, der für ihre Mitglieder verbindlich ist. Die Ethikkommission (EK) ist vom Vorstand und von den Mitgliedern damit beauftragt, über die Einhaltung dieses Kodex zu wachen, sich in ethischen Zweifelsfragen Gedanken zu machen und schließlich, das ethische Denken in Bezug auf den musiktherapeutischen Beruf in unserer Community zu sensibilisieren und anzuregen. Ist es eigentlich angemessen, so und so zu handeln, zu sprechen, zu reagieren? Folge ich wirklich dem Auftrag und kann ich mich in die individuellen und kulturellen Kontexte meiner Patient:innen einfühlen und hineindenken?

Deshalb haben sich die Mitglieder der Ethikkommission dazu entschieden, in lockerer Folge Beiträge für diesen Blog zu schreiben, in denen jeweils ein Thema kurz aufgegriffen wird. Kommentare und Diskussionsbeiträge sind dazu natürlich willkommen.

Ethische Prinzipien

Wer in den Ethikkodex schaut, findet dort Themen beschrieben, die als notwendige Rahmenbedingungen für die Arbeit von Musiktherapeut:innen dienen, etwa die Verpflichtung zur Verschwiegenheit, zur Gleichbehandlung, zum verantwortlichen Umgang mit Abhängigkeitsverhältnissen in Therapie und Ausbildung. Der Ethikkodex stellt ein Set von Regeln dar, die die Beteiligten und auch den Berufsstand selbst schützen sollen. Wir brauchen diesen Regel-Rahmen zur Orientierung. Das ethische Denken geht aber noch darüber hinaus, es ist dynamischer und auch herausfordernder. Wir treffen nämlich in der Praxis ständig auf Situationen, die ethische Fragen aufwerfen, die so nicht im Ethikkodex beschrieben sind. Wir müssen selbst eine Lösung finden.

Und hier kommt die Frage nach den Kriterien („Wie soll ich handeln?“) des ethischen Handelns ins Spiel: Welches Menschenbild habe ich eigentlich? Was sind meine Vorstellungen von Therapie und Lehre? Was leitet mich in der Beziehungsgestaltung zu Klient:innen und Auszubildenden? Es ist die Frage nach unseren grundlegenden Annahmen oder Prinzipien. Wobei „unsere“ sowohl individuell gemeint ist, jede:r für sich, wie auch bezogen auf die Community, die Berufsgruppe, die sich auf  bestimmte „basics“ geeinigt hat.

Das Prinzip des Kategorischen Imperativs

Ein solches Prinzip haben wir als „Kategorischen Imperativ“ von Kant alle schon einmal in der Schule kennengelernt. Diese Maxime lautet in etwas abgewandelter Form: „Handle nach derjenigen Handlungsregel, die ein allgemeines Gesetz der Menschheit sein könnte“ (Fenner, 2010). Man merkt sofort, dass dieses Prinzip sehr allgemein oder universell formuliert ist, so dass es schwer ist, es im Alltag anzuwenden. Es ist daher hilfreich, Prinzipien mittlerer Reichweite zu suchen, die in der Praxis Orientierung bieten.

Die Prinzipien von Beauchamp und Childress

In den berufsethischen Kontexten von Medizin und Psychotherapie hat man sich in den letzten Jahrzehnten auf vier Prinzipien verständigt, die ursprünglich von Beauchamp und Childress (2013) für die Bioethik herausgearbeitet wurden: Respekt vor der Autonomie, Prinzip des Nichtschadens, Prinzip des Wohltuns und Prinzip der Gerechtigkeit. Diese Prinzipien, auf die wir auch in unserem Ethikbuch (Stegemann & Weymann, 2019) eingehen, sind nicht universell: Man kann sich darauf beziehen und zugleich offen sein für andere oder weitere Prinzipien, die einem wichtig erscheinen – etwa Verlässlichkeit in beruflichen Beziehungen.

Die vier Prinzipien sollen nun kurz und mit Fallvignetten vorgestellt werden. Beispiele und Formulierungen des folgenden Textes sind teilweise dem Buch “Ethik in der Musiktherapie” (2019) von Thomas Stegemann & Eckhard Weymann entnommen.

Autonomie

Autonomie bezieht sich auf das Recht jedes Menschen, frei über sein Leben bestimmen zu können. Auch die Menschenwürde und die allgemeinen Menschenrechte sind mit diesem Prinzip verbunden. Alle Eingriffe anderer Menschen in unser Leben benötigen einer ausdrücklichen Zustimmung. Dies gilt schon im Alltag, aber ebenso für medizinische Maßnahmen oder für musiktherapeutische Behandlungen, für die eine ausdrückliche informierte Zustimmung (informed consent) unbedingt erforderlich ist. Dies gilt grundsätzlich auch – mit einigen Besonderheiten –für Personen, die nicht oder vermindert einwilligungsfähig sind.

In einem Wohnheim für geistig behinderte und chronisch psychisch kranke Erwachsene werden die Klient:innen oft vom Pflegepersonal zu bestimmten Therapien eingeteilt. Die Musiktherapeutin besteht jedoch darauf, mit den Klient:innen ein Vorgespräch zu führen, in dem mit einfachen Worten erklärt wird, was die Möglichkeiten und Ziele der Musiktherapie sind. Dann entscheiden die Klient:innen selbst, ob sie zur Musiktherapie kommen möchten oder nicht; wenn ja, wird ein schriftlicher Therapievertrag unterzeichnet.

Nicht-Schaden

Dieses Prinzip war bereits im Hippokratischen Eid enthalten (nil nocere), der schon aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert stammt und lange von Ärzt:innen als ethisch-moralische Selbstverpflichtung betrachtet wurde. Das Prinzip, niemandem zu schaden, ist allerdings interpretationsbedürftig. Wodurch schaden wir jemandem? Etwa durch das Verletzen von Grundrechten. Das Zufügen von Schmerzen und das Aktualisieren von leidvollen Erinnerungen sind in Medizin und Psychotherapie oft nicht zu umgehen. Das Prinzip kann so verstanden werden, dass Musiktherapeut:innen den Klient:innen von sich aus keinen Schaden zufügen. Dies beinhaltet beispielsweise die Überlegung, ob die in der Musiktherapie ausgelösten Bewegungen zu Entwicklung und Wachstum beitragen oder eher eine Überforderung bewirken, die zu Rückzug und Isolation führen können. Es sind also Fragen der Angemessenheit, der Dosierung und der Bewältigungskapazitäten der Klient:innen gegeneinander abzuwägen.

Fallvignette: Ein Musiktherapeut bekommt den Auftrag, bei einer gelähmten Patientin, die am Alzheimer-Syndrom leidet, mit dem Cello zu musizieren. Wie kann man aber wissen, ob sie klassische Musik gern hört? Sie kann weder sprechen noch sich sonst auf irgendeine Weise ausdrücken. Vielleicht ist das eine Quälerei für sie?

Wohltun

Das Prinzip Wohltun findet sich (als bonum facere) schon bei Hippokrates. Musiktherapeut:innen haben von Berufs wegen eine ethische Pflicht zu helfen (Fürsorgepflicht). Daher erscheint dieses Prinzip wie eine Banalität. Allein, was gut gemeint ist, ist nicht unbedingt und immer hilfreich. Die paternalistische Haltung („Ich weiß, was du brauchst!“) von Menschen in helfenden und beratenden Berufen ist schon lange unter kritische Beobachtung gestellt worden. Nicht immer wird von den Interessen der Klient:innen ausgegangen. So können doch bei freiberuflich arbeitenden Therapeut:innen durchaus auch wirtschaftliche Eigeninteressen im Spiel sein, die mit den Interessen der Klient:innen sorgfältig abzugleichen sind. Es muss also fachlich begründet werden, inwiefern eine bestimmte Handlung oder Haltung als hilfreich für die Klientin/den Klienten angesehen wird.

Fallvignette: Eine Musiktherapeutin wird von einem gesetzlichen Betreuer kontaktiert. Es geht um eine Klientin, die über keine sprachlichen Ausdrucksfähigkeiten verfügt. Bei einem Erstkontakt kann die Musiktherapeutin keine Notwendigkeit für bzw. keinen Wunsch nach einer Musiktherapie seitens der Klientin wahrnehmen. Der Betreuer besteht dennoch darauf, mit der Musiktherapie zu beginnen. Er kenne die Klientin schon besser und wisse, was gut für sie sei.

Gerechtigkeit

Auch das Prinzip Gerechtigkeit lädt zu vielfältigen Reflexionen ein. Es kann sich auf unterschiedliche und teilweise einander widersprechende Modelle von Gerechtigkeit beziehen. So etwa auf:

  • die Gleichheit der Menschen (Jeder Mensch muss die gleichen Chancen auf eine Behandlung erhalten)
  • die gerechte Verteilung knapper Güter
  • die optimale Effizienz einer Maßnahme
  • die Bedürftigkeit einer Person

Alle diese Punkte spielen in folgendem Beispiel eine Rolle und müssten in die Überlegungen einbezogen werden:

Fallvignette: Der Musiktherapeut in der Neuroreha bekommt den Auftrag, die Kontaktfunktionen eines Patienten mit der Diagnose „hypoxischer Hirnschaden“ zu überprüfen. Vom Ergebnis der Einschätzung kann abhängen, wie lange der Patient in der Reha-Abteilung behandelt wird.

Zu „gerechten“ Lösungen dürfte am ehesten der Versuch führen, mehrere Modelle zu kombinieren, gegeneinander abzuwägen und mit anderen von der Entscheidung betroffenen Personen zu diskutieren.

An dieser Skizze kann schon deutlich werden, dass der Bezug auf ethische Prinzipien oft nicht zu einfachen oder eindeutigen Lösungen (Rezepten) in ethischen Fragestellungen führt. Wohl aber können diese Prinzipien auch in der Musiktherapie eine gewisse Orientierung für die sorgfältige fachliche Auseinandersetzung der Beteiligten oder Betroffenen mit einer anstehenden Fragestellung bieten.

Gebote statt Verbote im AMTA Code of Ethics

Die American Music Therapy Association (AMTA) hat in ihrem Code of Ethics eine Art Leitfaden für ethisch korrektes Handeln formuliert. Mit der Darstellung von fünf Grundsätzen, die wiederum den Grundwerten Wohlwollen, soziale Verantwortung, Würde/Respekt, Gleichheit, Verantwortlichkeit, Exzellenz, Integrität und Mut folgen, ist hier eine Art „Best Practice“ der Berufsethik von Musiktherapeut:innen zu finden. Anders als viele Ethikkodexe, so auch der Kodex der DMtG, orientiert sich die AMTA nicht an Verboten, sondern an Geboten – „Wie soll ich handeln?“ statt „Wie soll ich nicht handeln?“

Ausblick

In den folgenden Blog-Beiträgen möchte die Ethikkommission diesen Code of Ethics der AMTA näher vorstellen und der Frage nachgehen, ob und wie eine solche Denkweise unsere Haltung zur Berufsethik verändern kann. In regelmäßigen Abständen werden an dieser Stelle Blog-Beiträge zu den fünf formulierten Grundsätzen erscheinen. Die Ethikkommission freut sich auf Kommentare, Anregungen und Diskussionen! Nur so werden die Beiträge der Serie „Ethik in Progress“ auch mit Leben gefüllt.

Literatur

American Music Therapy Association (AMTA). www.musictherapy.orgCode of Ethics (Ethikkodex).

Beauchamp, Tom L. & Childress, James F. (2013). Principles of biomedical ethics. 7. Aufl. New York: OUP.

Fenner, Dagmar (2010). Einführung in die Angewandte Ethik. Tübingen: A. Francke / UTB.

Stegemann, Thomas & Weymann, Eckhard (2019). Ethik in der Musiktherapie. Grundlagen und Praxis. Gießen: Psychosozial (Siehe auch den Blogbeitrag der Autoren “Ethik in der Musiktherapie – in den Zeiten der Coronakrise” vom 22. Mai 2020).

Headerfoto: Thomas Stegemann

 

Picture of Eckhard Weymann

Eckhard Weymann

Prof. Dr. Eckhard Weymann ist Diplom-Musiktherapeut, Diplom-Musikpädagoge, Supervisor DGSv. Morphologische Musiktherapie. Ehem. Leitung des Instituts für Musiktherapie (Masterstudium und Promotionsstudium zum Dr. phil.) der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. www.praxisweymann.de

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