Das Atmosphärenkonzept Musiktherapie von Jan Sonntag

Das Atmosphärenkonzept in der Musiktherapie

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In seiner leiblichen Existenz ist jeder Mensch subtil von atmosphärischen Qualitäten seiner Umgebung beeinflusst. Die plötzliche Verdunkelung des Himmels durch eine Wolke, die Ungastlichkeit eines schlecht besuchten Restaurants, die aufkommende Gemütlichkeit desselben, sobald es sich füllt, die Ausstrahlung einer einzelnen Blume in der Nische eines Zimmers oder die Anwesenheit von Hintergrundmusik in einem Café: Unzählige Beispiele belegen die atmosphärische Wirkung alltäglicher Umgebungen.

Quasi-objektive Gefühlsmächte

Atmosphären können spannend, drückend, aufregend oder intensiv sein. Sie bedrängen, begeistern, nerven, berauschen, irritieren oder überwältigen uns. Als quasi-objektive Gefühlsmächte sind sie dabei ebenso allgegenwärtig wie schwer zu fassen. Sie entziehen sich bewusster Reflexion und entfalten aber gerade prä- und postreflexiv ihre besondere Kraft.

Der Philosoph Michael Hauskeller, ein Schüler des wohl bekanntesten Atmosphärentheoretikers Gernot Böhme schreibt:

„Wie die Welt für uns ist, das heißt welcher Art unsere Beziehung zu ihr in jedem einzelnen Moment ist und wie wir uns in ihr befinden, erfahren wir nicht gegenständlich, sondern atmosphärisch.” (Hauskeller 1995, Seite 101)

Eine Kategorie leiblichen Erlebens

Seit mehr als zwanzig Jahren untersuche ich das ästhetische Phänomen Atmosphäre in unterschiedlichen Zusammenhängen, dabei am intensivsten in Bezug auf Demenz und Musik. Durch die musiktherapeutische Arbeit mit Menschen mit Demenz in Verbindung mit dem Studium phänomenologischer Schriften habe ich gelernt, Atmosphäre als Kategorie leiblichen Erlebens zu verstehen und ihre Bedeutung für den Menschen mit und ohne Demenz zu beschreiben. Auf diesem Wege habe ich einen spezifischen Ansatz in der Musiktherapie entwickeln können: Das Atmosphärenkonzept, dessen erste Veröffentlichung dieses Jahr ihren zehnten Geburtstag feiert (Sonntag, 2013).

„Der mit Dieser Arbeit begründete atmosphärenorientierte Ansatz ermöglicht das Einbeziehen der dinglichen und sozialen Umgebung in die musiktherapeutische Arbeit. Dadurch begründet der Autor eine lebendige, künstlerische und gleichzeitig annehmende Sicht auf die Daseinsform Demenz. Ein sehr interessantes und intellektuell anregendes Fachbuch!“ (Bolz, 2019)

Die sensible und behutsame Berücksichtigung von Atmosphären ermöglicht eine Annäherung an die Erlebniswelt Demenzbetroffener und begünstigt interpersonelle Resonanz und Beziehungsqualitäten, die sich zu einem Gefühl tiefer menschlicher Verbundenheit steigern können.

Raumbezogene Gestaltung zwischenmenschlicher Kontakte

Das Atmosphärenkonzept in der Musiktherapie thematisiert die raumbezogene Gestaltung zwischenmenschlicher Kontakte ebenso wie Maßnahmen zur Verbesserung auditiver Milieus in stationärer Pflege und Betreuung. Es ist in einen weit verzweigten interdisziplinären Kontext zwischen künstlerischen, philosophischen und therapeutischen Konzepten eingebettet, etablierte sich in der Begleitung von Menschen mit Demenz und wird mittlerweile auch in Bezug auf andere Praxisfelder untersucht (Sonntag 2021).

Musik trägt uns über uns hinaus

Ein Ausgangspunkt des Atmosphärenkonzepts liegt im Erleben von Musik und Sound. Musik umgibt uns wie Raum und hat durch synästhetische Charaktere und Bewegungssuggestionen einen starken Bezug zu leiblichen Regungen. Musik umhüllt und durchdringt uns, kann Raum der Geborgenheit sein, tief bewegen und uns weit über uns hinaustragen. In dieser Hinsicht ist Musik Atmosphären zum Verwechseln ähnlich. Im Medium der Musik treten Wirkungszusammenhänge von Atmosphären besonders deutlich hervor.

Therapeutische Atmosphären als resonanzgebender Raum

Die Systematik des Atmosphärenkonzepts mündet in der Idee von Therapeutischen Atmosphären. Diesen Begriff präge ich mit Blick auf benigne Atmosphären, insofern ihr Entstehen durch gekonntes und reflektiertes therapeutisches Handeln befördert wird. Ich definiere Therapeutische Atmosphären als resonanzgebenden Raum, der ermöglicht, sich ohne Handlungs- und emotionalen Druck in spürbarer Anwesenheit anderer selbst zu erleben. Wo das versiegende Vermögen, sich verbal zu artikulieren, häufig Beziehungsabbrüche und sozialen Tod zur Folge hat, spannen Therapeutische Atmosphären einen Raum auf, in dem sich Leben und Zusammenleben weitgehend unabhängig von kognitiven Kompetenzen wie Sprache oder Gedächtnis vollziehen kann.

„Jan Sonntag versteht es, Beobachtungen sehr genau und doch mit oftmals spielerischer Leichtigkeit zu formulieren. Das Handlungskonzept ist klar, didaktisch geschickt, theoriebezogen, anwendbar. Vor dem Hintergrund der Vorstellung eines ‚offenen Settings‘ (ein innovativer Begriff, an dessen Entstehen Sonntag maßgeblich beteiligt war) werden Haltungen, Prinzipien und Methoden dargestellt – jeweils von erhellenden Praxisvignetten begleitet.“ (Weymann, 2013).

Große Offenheit, aber nicht beliebig

Therapeutische Atmosphären dienen der Gestaltung einer dynamischen, haltgebenden und entlasteten Umwelt. Sie zeichnen sich durch große Offenheit aus, die aber nicht beliebig sind, sondern Anknüpfungspunkte bieten.

Eine Anfang 90jährige Patientin richtete nach der Musiktherapiestunde folgende Worte an mich:

„Ich mag es, wenn Dinge auf Schönheit gegründet sind. Wenn sie zueinander passen und zu den Menschen passen. Das kann aber man nicht heranziehen. Das muss man finden. Und manchmal findet es sich, und dann löst es sich wieder auf. Ob das stimmt, was ich sage, weiß ich nicht, aber ich hoffe es.“

Unterschiede können integriert werden

Atmosphäre wird als Umraum erfahrbar, der flexibel auf die Bedürfnisse und Lebenslagen von Menschen mit Demenz abgestimmt ist. Dadurch wirkt sie inklusiv, vermag Menschen unterschiedlicher kognitiver Niveaus einzubeziehen und Unterschiede zu integrieren: Irrationales, Unerwartetes, starke Gefühle, bizarre Verhaltensweisen oder ganz unaufgeregtes Miteinander. Konzeptionell sind Therapeutische Atmosphären mit spezifischen musiktherapeutischen Settings, Haltungen, Prinzipien und Methoden assoziiert, die ich vor allem in der genannten ersten Publikation ausführlich dargestellt habe.

Nach einer Fortbildung zum Atmosphärenkonzept betonte eine Teilnehmerin:

„Die Verbindung aus Philosophie und klarer Handlungssystematik hilft mir, eine ganz basale Ebene der Musiktherapie besser zu verstehen und genau zu wissen, wie sie in der Praxis berücksichtigt werden kann.“

Das Atmosphärenkonzept in der Musiktherapie wird von mir und anderen beständig weiterentwickelt, ist Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen, Projekte und Forschungstätigkeiten. Es steht in enger Beziehung zu musiktherapeutischer Praxis und wird in akademischer Lehre sowie in Form von Seminaren, Vorträgen und persönlichem Coaching vermittelt.

Eine Studentin gab folgende Rückmeldung:

„Atmosphäre ist das missing link. Genau das hat mir gefehlt, um mein Verständnis von musikalischer Praxis mit Menschen zu vervollständigen.“

Fallbeispiel

Zu Beginn meiner Tätigkeit als Musiktherapeut in einem Hamburger Pflegeheim für Menschen mit Demenz war ich unsicher und gespannt. Das hatte unter anderem damit zu tun, dass ich nicht wie gewohnt in einem Behandlungsraum, sondern im offenen Gemeinschaftsraum unter den Augen erfahrener Altenpflegekräfte tätig werden sollte. Jedenfalls spielte ich viel Musik, weil ich glaubte, damit zeigen zu können, dass ich gute Arbeit leiste. Einen Notenständer vor mir sang ich bekannte Volkslieder zu Gitarrenbegleitung in dem Glauben, allein dadurch müssten die mittel- bis hochgradig demenzbetroffenen Heimbewohner:innen erreichbar sein, und wunderte mich darüber, dass kaum jemand auf die Musik reagierte. Meine ganze Präsenz muss Anstrengung und Stress vermittelt haben, vor allem vermutlich meine Stimme.
Eines Tages saß neben mir Frau L., reglos und apathisch, so dass ich zunächst kaum Notiz von ihr nahm. Auf einmal neigte sie sich umständlich zu mir herüber, legte mir ihre Hand auf die Schulter und sagte: „Junge, du brauchst dich doch nicht so anstrengen.“  Mehr sagte sie nicht, aber diese Geste und dieser Satz allein ließen mich innehalten in meinem rastlosen Singen. Geradezu erleichtert lehnte ich mich zurück und begann überhaupt erst jetzt wahrzunehmen, was um mich herum passierte. Ich sah die leise Geschäftigkeit einiger Anwesender, hörte das gedämpfte Schnarchen einer Schlafenden, spürte die ruhige Atmosphäre des Raumes, entspannte mich. Nach einer ganzen Weile begann meine Hand, in die relative Stille hinein die Saiten der Gitarre zu zupfen. Vereinzelte Töne zunächst, wie eine Untermalung der ruhigen Szene. Spielend konnte ich beobachten, wie subtil Bezug genommen wurde auf die Musik. Das hätte ich in meinem Stress vorher gar nicht bemerkt. Aus der Beschallung wurde ein Resonanzgeschehen, in dem die Anwesenden in Erscheinung und in Interaktion treten konnten. Das Wiegen eines Kopfes, das Klopfen auf einen Tisch. Die Gesten wurden rhythmischer, die Klänge wieder präsenter. Schließlich setzte auch der Gitarrenrhythmus wieder ein und es drängte sich mir ein Lied auf: ‚Wenn alle Brünnlein fließen‘, ein Lied, dass rhythmisch beschwingt und textlich reich an Kontakt- und Sinnesthemen nun restlos passend die verwandelte Situation sowohl spiegelte als auch unterstützte.

Literaturauswahl

Bolz, C. (2019). Rezension „Demenz und Atmosphäre. Musiktherapie als ästhetische Arbeit“. Zeitschrift für Fürsorgewesen, 71/1, 23.

Hauskeller, M. (1995). Atmosphären erleben. Philosophische Untersuchungen zu Sinneswahrnehmung. Berlin: Akademie-Verlag.

Sonntag, J. (2013). Demenz und Atmosphäre. Musiktherapie als ästhetische Arbeit (2. Aufl. 2016). Frankfurt: Mabuse.

Sonntag, J. (2021). Atmosphäre. In H.-H. Decker-Voigt & E. Weymann (Hrsg.), Lexikon Musiktherapie (3. vollst. überarb. Aufl.), S. 39-44. Göttingen: Hogrefe.

Weymann, E. (2013): Gutachten zur Dissertation „Atmosphären wahrnehmen, verstehen und gestalten“ von Jan Sonntag, angenommen an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg.

Headerfoto: Michael Hagedorn

 

Picture of Jan Sonntag

Jan Sonntag

Prof. Dr. sc. mus. Jan Sonntag, Dipl. Musiktherapeut (FH, DMtG, HeilprG), ist Professor für Musiktherapie am Department Kunst, Gesellschaft und Gesundheit der MSH Medical School Hamburg. Er studierte Musiktherapie an der Fachhochschule Heidelberg und promovierte an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Seit 1999 fokussiert er seine Arbeit als Praktiker, Forscher, Berater und Dozent auf die Musiktherapie bei Demenzen und begründete das Atmosphärenkonzept in der Musiktherapie. Seit 2013 beschäftig er sich verstärkt mit Musik und Sonic Arts in sozialen Transformationsprozessen, leitet musikbasierte und intermediale Partizipationsprojekte und trägt zur Entwicklung von Healing Soundscapes bei. Internationale Vortrags- und Publikationstätigkeit. jansonntag.de, arts-and-change.de.

Dieser Beitrag hat 6 Kommentare

  1. Dorit Paul

    Lieber Jan, ich verfolge deine Arbeit aus der Ferne mit großem Interesse. Ich arbeite mit Klientel im stationären Alltag: Sucht-, Ess-, Angst- und Zwangsthemen. In meiner musiktherapeutischen Arbeit Versuche ich, entsprechend deiner Ideen und Konzepte, die Atmosphäre immer mit einzubeziehen und Resonanzphänomene als tragendes Therapeutisches Element zu begreifen. Ich finde übrigens, dass es interessante Parallelen zur Arbeit von Karin Schumacher (EBQ-Instrument) gibt. Diese sind nicht offensichtlich und möchten vielleicht nicht so genannt werden, weil die kognitiven Aspekte (Module), auf die sich die Therapeutin bei der Anwendung des EBQ Instruments fokusiert, eine andere Ebene bedient. (Ich schreibe gerade frei von der Leber weg und spontan). Ich komme darauf, auf Grund des offenen settings und der inneren Haltung und des dennoch zielgerichteten therapeutischen Handelns. Also, Danke für den Blog und herzliche Grüße aus dem Süden

  2. Dorothea Muthesius

    Das überzeugendste an diesem Konzept finde ich, lieber Jan Sonntag, dass ja Menschen mit Demenz Atmosphären tatsächlich viel besser wahrnehmen können, gerade weil sie kognitive Fähigkeiten eingebüßt haben. So sind wir es, mit dem vermeintlichen Vorteil schnell und abstrakt denken zu können, die im Nachteil sind, weil wir Atmosphären zu ignorieren versuchen wenn sie uns im Wege stehen.
    Ein basaler Beitrag zur Atmosphäre ist der Klang der Stimme, natürlich der Singstimme aber auch der Sprechstimme. Bei Singstimme ist es ja oft die Musik, die ja auch viel zur Atmosphäre beiträgt. Die Sprechstimme ist normalerweise auf die Vermittlung von Informationen gerichtet. Da haut es mich immer wieder vom Hocker, mit welcher Präzision Menschen mit Demenz das “Sein” wahrnehmen können, obwohl – oder weil? – sie die Logik des Gesprochenen nicht mehr verstehen.

    1. Peter Schulze

      Liebe Dorothea,
      vielen Dank für deinen Beitrag. Du hat die Gabe, mit wenig Worten die Sache auf den PUNKT zu bringen.
      “Lachen öffnet Türen
      ein Ton die Seele”
      ( P.S.)

  3. Anne-Katrin Jordan

    Wie immer eine sehr anregende Lektüre. Vielen Dank dafür! Vielleicht könnten wir ja zum 10jährigen eine Übertragung des Atmosphärenkonzeptes auf andere Bereiche diskutieren…

  4. Nicole Hartmann

    Sehr spannend! Mir scheint, dass dieses Konzept sehr gut auch auf andere künstlerische Therapien (und nicht nur die) übertragbar ist. Und sich sicher Überschneidungen mit der Resonanztheorie von Hartmut Rosa finden lassen, was interessant wäre zu diskutieren.

  5. Peter Schulze

    Lieber Jan,
    das Atmosphären- Konzept, das du entwickelt hast, begleitet mich bei meiner wöchentlich musiktherapeutischen Tätigkeit im Altenheim. Es ist gerade das offene Setting, bei dem das Konzept zur Anwendung kommt. Ganz gezielt achte ich auf die Nische, den Passagier, die anlockende Partizipation, das allmähliche Annähern mit leisen Klängen und einen Bogen, den ich spanne von langsamen zu schnellen Rhythmen, allmählich steigernd und wieder abnehmend. Meine plattdeutschen Kenntnisse kommen mir bei meinem Klientel aus der Lüneburger Heide zugute. Schnell ist man auf DU, ohne die Distanz zu verlieren und den Einzelnen in seiner Muttersprache zu erreichen.
    Jetzt in der Adventszeit werden viele Tränen vergossen, Erinnerungen kommen hoch, und auf Knopfdruck ertönen bei den Menschen mit Demenz die alten Weihnachtslieder. In der Tat bedarf es immer wieder der Selbstreflexion zwischen Stille, Zupfen auf der Gitarre und gemeinsam singen. Gerne schaffe ich zu Beginn eine Atmosphäre mit Klängen auf der Okarina und nehme Blickkontakt auf, bevor ich die altbekannten Lieder singe und mich auf der Gitarre begleite. Ich mache gute Erfahrungen mit Handtrommel und Schellenkranz, um den Rhythmus zu schlagen. Es ist dieses Zwischenleib-Gedächtnis, das noch bei der 104-Jährigen ausgeprägt ist, wenn ich ihr zwei Boomwhackers anbiete und sie den Rhythmus zu „Horch, was kommt von draußen rein“ schlägt.
    Am Ende meines Dienstes spiele ich gerne auf meinem Tenorhorn. Dieser sonore, nicht zu penetrante Klang erschallt dann durch das ganze Altenheim, während die Bewohner.innen beim Abendbrot sind oder der ein oder andere ein Abendlied aus der oberen, mittleren oder untersten Etage mitsingt.
    Das Atmosphäre Konzept lässt sich auch auf unterschiedliche Gottesdienste übertragen- wie erreiche ich Schulanfänger, Kirchen ferne oder Trauernde!

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