Anlässlich des Weltflüchtlingstags am 20. Juni 2024 möchte ich als Mitglied des Arbeitskreises “Musiktherapie mit Geflüchteten” der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft (DMtG) auf einige Projekte aufmerksam machen, in die ich seit einigen Jahren involviert bin. Sie zeigen beispielhaft, wie Musik und Musiktherapie wertvolle Ressourcen zur Unterstützung von Geflüchteten darstellen.
Laut United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) befanden sich Ende 2023 mehr als 114 Millionen Menschen auf der Flucht. Die Forschung zur Rolle von Musik und Musiktherapie in der Flüchtlingshilfe wächst zwar seit einigen Jahren, allerdings fehlen nach wie vor Publikationen aus Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen, die oft die größte Zahl von Geflüchteten aufnehmen.
Das Heidelberger "Bridges"-Projekt
Das Heidelberger Projekt “Bridges” umfasst vielfältige Angebote zur musikalischen Förderung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Fluchterfahrung. Das Projekt “Bridges” richtet sich an Geflüchtete im Alter von 5 bis 28 Jahren und bietet ein breites Spektrum an musikalischen Aktivitäten, um die musikalischen Fähigkeiten der Geflüchteten zu entdecken und weiter zu entwickeln, sowie den Austausch mit Menschen aus verschiedenen Kulturen zu fördern.
Erfahrene, kultur- und traumasensible Musiktherapeuten:innen, Musikpädagogen:innen und Musiker:innen bilden das Team von “Bridges”. Sie werden durch Fortbildungen speziell geschult und erhalten zur Qualitätssicherung regelmäßig Supervision.
Erster Live-Auftritt - und ein Fallbeispiel
Vor kurzem hatten die im “Bridges”-Projekt betreuten Kinder die Gelegenheit, zum ersten Mal auf einer Bühne in Heidelberg aufzutreten. Es waren beeindruckende Momente, die den Fortschritt und die Entwicklung der Teilnehmenden zeigten.

Unsere Erfahrungen in einem Fallbeispiel zusammengefasst
Das folgende, fiktive Fallbeispiel eines jungen Geflüchteten (wir nennen ihn Omar) basiert auf unseren Erfahrungen mit einigen Kindern und Jugendlichen:
Omar kam vor einigen Jahren als schüchterner Junge nach Deutschland. Er sprach kaum und fühlte sich in seiner neuen Umgebung verloren. Innerhalb des Projektes fand er jedoch schnell Zugang zur Musik, die ihm half, seine Gefühle auszudrücken. Zunächst traute er sich kaum, vor anderen zu spielen. Doch durch die einfühlsame Unterstützung der Musiktherapeut:innen entwickelte Omar mit der Zeit mehr Selbstvertrauen.
In den offenen und bewusst niederschwellig konzipierten Gruppensitzungen (“Spielraum Musik – ein Stück Heimat”), welche mit Liedern aus den Herkunftsländern, aktuellen Liedwünschen der geflüchteten Kinder und Jugendlichen, sowie musiktherapeutischen Settings einen regelmäßig stattfindenden Raum zur emotionalen Regulierung und Förderung der Resilienz bieten, konnte sich Omar (anfänglich auch ohne Sprachkenntnisse) mit seinem Befinden und seinen Bedürfnissen immer mehr zeigen und dann seinen Platz in der Gruppe finden.
Schließlich äußerte er den Wunsch, Gitarre spielen zu lernen, und erhielt parallel zu den Gruppensitzungen Einzelunterricht. Seine neu erworbenen musikalischen Kompetenzen konnte er in den monatlich stattfindenden Bandworkshops erproben und festigen. Dies wiederum stärkte sein Selbstwertgefühl, so dass er nun bereit für einen Auftritt vor dem Heidelberger Publikum war.
Heute ist er ein selbstbewusster junger Musiker, der nicht nur seine eigenen Fähigkeiten ständig weiterentwickelt, sondern auch andere inspiriert. Sein Auftritt in Heidelberg war ein Höhepunkt, auf dem er zeigte, wie weit er gekommen ist. Seine Geschichte und seine Musik mit einem breiten Publikum zu teilen machte ihn und alle, die ihn unterstützen, sehr stolz.
Kurzes Video zu den Gruppen-sitzungen während der Pandemie
Während der Covid-19-Pandemie konnten wir unsere regulären Musikgruppen nicht abhalten, daher haben wir ein Video erstellt, um dennoch gemeinsam Musik zu machen. Dieses Video illustriert einen bedeutenden Aspekt unserer Spielraum-Musikgruppen: Jede Sitzung beginnt mit einem Begrüßungslied in den Sprachen aller anwesenden Teilnehmer. So können auch neu in Deutschland angekommene Teilnehmer, die noch kein Deutsch sprechen, ihre Muttersprache hören, selbst wenn es nur ein “Hallo” ist. Dies schafft nicht nur eine inklusive Atmosphäre, sondern auch eine wiederkehrende Struktur für die Gruppen.

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Ein internationales Panel zu Musikprojekten mit Geflüchteten
Im Rahmen des Panels “The Music Response to a Global Refugee Crisis” der International Association for Music and Medicine (IAMM), das ich im Mai 2022 moderierte, lernte ich einige Projekte aus verschiedenen Ländern der Welt kennen, die die Vielfalt der Rollen aufzeigten, die Musik und Musiktherapie in Projekten zur Unterstützung von Geflüchteten und Vertriebenen übernehmen:
Juan Manuel Acosta Salazar (Kolumbien)
Musik in der medizinischen Grundversorgung mit Aufnahme- und Migranten-Gemeinden in Kolumbien mit einer hohen Zahl an venezolanischen Migranten. Juan Manuel berichtet über ein Projekt der Internationalen Organisation für Migration (IOM) namens #COMPONERPARACUIDAR. Das Projekt nutzt Musik, um Gemeindeleitern und Verantwortlichen dabei zu helfen, wirkungsvolle Kommunikationsstrategien für Migranten- und Aufnahme-Gemeinden zu entwickeln.
Andrew Agassi (Uganda)
“Brass for Africa” bietet benachteiligten Kindern und Jugendlichen in Uganda, Ruanda und Liberia Musikunterricht mit einem innovativen und maßgeschneiderten Lebenskompetenz-Curriculum an. Es wurden eine Bühne, ein Tonstudio, Instrumente und ein mobiles Kino in die BidiBidi-Flüchtlings-Siedlung gebracht – eine der größten Flüchtlings-Siedlungen der Welt im Norden Ugandas. “Brass for Africa” arbeitet mit lokalen Organisationen zusammen, um regelmäßigen Unterricht mit Blechblasinstrumenten, Lebenskompetenztraining und Auftrittsmöglichkeiten anzubieten.
Hisham Alhadrab (Jordanien)
Psychosoziale Unterstützungsgruppen für syrische Flüchtlinge in Jordanien. Ein Musiktherapie-Projekt, das Jugendlichen im Flüchtlingslager Za’atari im Norden Jordaniens Musiktherapie-Sitzungen anbietet.
Danny D. Kora (Türkei)
2014 entwickelte Herr Kora als Musiktherapeut ein Programm mit, um syrischen Flüchtlingskindern in der Türkei zu helfen, Bewältigungsstrategien und Techniken zur sicheren Emotionsregulation zu erlernen.
Dominika Dopierała & Dr. hab. Krzysztof Stachyra (Polen)
Berichtet wird über die Koordination von kulturellen Workshops für Ukrainer in Polen sowie über die Beobachtungen beim gemeinsamen Musizieren mit Menschen, die von der Flüchtlingskrise betroffen sind.
AK Musiktherapie mit Geflüchteten
Im Arbeitskreis “Musiktherapie mit Geflüchteten” der DMTG arbeiten mit: Andrea Jarchow-Atu (Ansprechpartnerin, Email: andrea.jarchow-atu@musiktherapie.de), Reinhild Boß, Mona Dittrich, Samuel Gracida, Tina Mallon, Cordula Reiner-Wormit, Henrike Roisch, Gulsanam Sadik (ehem. Sadikova).
Link-Übersicht
Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft (DMTG) – www.musiktherapie.de
Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) – www.unhcr.org
Samuel Gracida. Bridges – ein Musikprojekt mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen. Blogbeitrag vom 29. September 2022.
Bridges-Projekt – https://bridgesmusik.com
International Association for Music and Medicine (IAMM) – https://iammonline.com
Samuel Gracida Webseite – https://samuelgracida.com