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Bridges – ein Musikprojekt mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen

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“ICH WERDE NIE AUFHÖREN, MUSIK ZU LERNEN,” SAGTE EIN KIND AUS TUNESIEN, DEM ICH SEIT MÄRZ DIESES JAHRES GITARRE BEIBRINGE.

Nicht nur das Bedürfnis, in Musik involviert zu sein, sondern viele andere Erfahrungen mit geflüchteten Kindern habe ich im Projekt “Bridges” dieses Jahr erlebt. „Bridges” soll Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Fluchterfahrung von 5 bis 28 Jahren mit verschiedenen musikalischen Angeboten erreichen, unterstützen und fördern.

Der Verein IKUMU – Verein für interkulturelle Musik aus Heidelberg hat dieses Jahr im Rahmen des Aktionsprogramms der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung „Aufholen nach Corona” einen Antrag für das Förderprogramm „AUF!leben“ vom Bundesministerium für Familie gestellt. Der Antrag wurde positiv beschieden und die vielfältigen Angebote in „Bridges“ konnten von März bis August 2022 stattfinden. Professionell qualifizierte, beruflich erfahrene, kultursensible und traumasensible Musikpädagogen:innen, Musiktherapeuten:innen und Musiker:innen bilden das multiprofessionelle Team. Dabei sind: Jutta Glaser, Cordula Reiner-Wormit, Stefanie Ferdinand, Samuel Gracida, Sergio Rojas, Zelia Fonseca, Elisa Herbig, Noemi Herberger, Oliver Kuka, & Diane J. Pitzer.

Bridges ein Musikprojekt, von Samuel Gracida

Flucht und Vertreibung

Laut dem Bericht “Global Trends” des UNHCR (UNHCR, 2020) werden Ende 2020 weltweit schätzungsweise 82,4 Millionen Menschen gewaltsam vertrieben sein. Der große Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland und Europa hat viele wichtige Diskussionen ausgelöst.

Ihre Integration in die deutsche und europäische Gesellschaft und ihre besonderen Bedürfnisse sind oft Thema dieser Diskussionen, insbesondere seit die Türen für über 1 Million Flüchtlinge im Jahr 2015 geöffnet wurden (Brücker, Jaschke, & Kosyakova, 2019; Casey, 2019; Schu, 2020; Trines, 2017; Trines, 2019; Wallis, 2018).

Für die vielen Flüchtlingskinder, die jetzt in Deutschland neu angesiedelt sind, könnten gemeinschaftliche Musikinitiativen ihren Weg unterstützen, ihr volles Potenzial für ökologische und individuelle Ganzheitlichkeit zu erreichen.

“Bridges” Projekt

Vor dem Hintergrund dieses globalen Kontextes hat sich das lokale Projekt “Bridges” entwickelt. Ich bin seit 2019 in diesem Projekt engagiert, wo Musik als wohltuende Aktivität eingesetzt wird. Ein Team von Musiktherapeut*innen, Musiker*innen und Musikpädagogen*in ist seit langem engagiert.

Dieses Jahr ist das Projekt gewachsen, da wir einen Antrag von AUF!Leben bekommen haben. Besonders interessant für mich als Musiktherapeut ist, dass wir ja keine “Therapie” anbieten und trotzdem therapeutisch denken. Im Rahmen von offenen Musizieren und Singen, Unterrichtsstunden, und Bandarbeit sind wir immer aufmerksam, wie wir uns verhalten und was wir mit den Kindern machen.

Es ist wichtig festzustellen, dass die Familien, die in diesen Unterkünften leben, zwar aus unterschiedlichen Verhältnissen kommen und verschiedene kulturelle Merkmale aufweisen, aber alle im selben Wohngebiet leben, sich häufig sehen, dieselben Schulen besuchen und mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sind.

Außerdem ist es wichtig zu betonen, dass die Kinder, auf die ich mich in diesem Artikel beziehe, wahrscheinlich für einen längeren Zeitraum in Deutschland bleiben werden und vielleicht schon einige Monate oder sogar Jahre hier sind. Dies steht im Gegensatz zu Personen, die sich vielleicht auf der Durchreise befinden, oder zu Asylbewerbern, die sich ihrer Situation nicht sicher sind.

Meine Erfahrung in “Bridges”

Im Laufe meiner Beteiligung an diesem Projekt habe ich viele verschiedene Phasen erlebt. Am Anfang war ich nur ein Beobachter. Nach einigen Monaten habe ich mich auch freiwillig gemeldet, um die Kinder zu unterrichten. Dieses Jahr war die Erfahrung sehr intensiv, da ich viel Zeit damit verbracht habe, die Kinder zu unterrichten und mit ihnen zu musizieren. Ich habe erlebt, wie sich meine Beziehung zu den Kindern entwickelt hat und nun stärker ist. Ich freue mich, dass meine Schüler weiter lernen wollen und sich für das Musizieren engagieren.

Als Musiklehrer habe ich erlebt, wie aus Kindern, die zunächst nichts lernen wollten, talentierte Instrumentalisten wurden, die mehrere Instrumente erlernen wollen. Ich habe auch Kinder unterrichtet, die schon in sehr jungem Alter in kürzester Zeit Lieder erlernen. Und ich habe Kinder, die mir immer wieder sagen, dass sie nie aufhören werden, Musik zu lernen und nicht nur ein, sondern mehrere Instrumente erlernen wollen.

Herausforderungen

Natürlich ist die Arbeit nicht ohne Herausforderungen. Es gibt Kinder, die angefangen haben zu lernen; dann haben sie beschlossen, dass sie nicht mehr wollen, aus welchen Gründen auch immer, und eine gewisse Distanz zu uns als Gruppe an den Tag gelegt, um sich dann langsam wieder der Musik zu nähern.

Wir hatten auch damit zu tun, dass der Unterricht oft ausfiel, dass es Kommunikationsschwierigkeiten gab und die Unterrichtszeiten nicht eingehalten wurden; dass die Energie der Kinder, die alle auf einmal Aufmerksamkeit wollten, manchmal zu groß war – und vieles mehr.

Im Laufe dieser Arbeit bin ich auf mehrere Schwierigkeiten gestoßen, von denen einige auch heute noch in der laufenden Arbeit präsent sind. Diese Fragen und Herausforderungen veranlassten mich, einen Artikel über Sprache und Macht in dieser Arbeit zu verfassen. Dieser Artikel ist noch in Überarbeitung und ich lerne sicherlich noch viel über das Thema.

Konzerte

Bei unseren letzten Konzerten, die von Jutta Glaser gekonnt geleitet wurden, kamen tatsächlich Kinder und Erwachsene. Die beiden Konzerte, die ich miterlebte, lösten im Publikum ein breites Spektrum an Gefühlen aus, von der Freude und Bewegung der Weltmusik, die von meisterhaften Musikern gespielt wurde, bis hin zu der rauen und berührenden Erfahrung einer ukrainischen Mutter, die aus vollem Herzen sang.

Was bei dieser Arbeit offensichtlich wurde, ist, dass Musik viele Türen für den Aufbau von Gemeinschaft und Resilienz öffnen kann. In unserem Fall haben wir uns auf Kinder und junge Erwachsene konzentriert, aber das bedeutet nicht, dass Erwachsene nicht von ähnlichen Angeboten profitieren können.

Tatsächlich hat mich diese Arbeit dazu inspiriert, meine Masterarbeit über die Erstellung eines Programmvorschlags für die weitere Arbeit mit Flüchtlingen zu schreiben. Durch diese Forschung habe ich viel von verschiedenen Projekten und Literatur aus der ganzen Welt über Musiktherapeuten und andere Fachleute gelernt, die Musik mit Flüchtlingen für deren Wohlbefinden einsetzen..

Besonders wichtig für mich sind auch die Theorien von Dr. Kenneth Dinsburg über Kindheit und Resilienz gewesen. Er nennt sieben Themenbereiche, die Resilienz fördern: Kompetenz, Positive Selbstwahrnehmung, Kontrollüberzeugung, Beitrag, Bewältigung (Coping), Soziales Netzwerk/Beziehungen, und Charakterstärke. Im Rahmen des Projekts der letzten Monate gab ich einen Workshop darüber, wie diese Theorie und diese sieben Bereiche in unserer Arbeit berücksichtigt werden.

Was kommt als nächstes?

Dennoch glaube ich, dass diese Arbeit einen großen Einfluss auf das Leben der Kinder hat, mit denen wir zu tun haben, und ich hoffe aufrichtig, dass ich weiterhin mit ihnen arbeiten kann. Wie so oft ist das Geld nun eine große Hürde, die wir überwinden müssen. Da wir für die Ausweitung des Projekts in diesem Jahr auf einen großen Zuschuss angewiesen waren, der nun ausgelaufen ist, müssen wir nun händeringend nach Mitteln suchen, um diese Arbeit bis zum Ende des Jahres fortzusetzen. Aus diesem Grund haben wir beschlossen, eine Spendenaktion zu starten (die Sie hier finden können: www.betterplace.org/en/projects/112090).

Unabhängig davon, wie es weitergeht, denke ich, dass dieses Projekt für alle Beteiligten eine große Bereicherung war. Ich hoffe aufrichtig, dass es auf die eine oder andere Weise fortgesetzt wird, und ich kann es kaum erwarten, Ihnen in meinem nächsten Blogbeitrag zu berichten, wie es weitergeht!

Literaturauswahl

Ahonen, H., & Desideri, A. M. (2014). Heroines’ journey – emerging story byrefugee women during group analytic music therapy. Voices: A WorldForum for Music Therapy, 14(1). doi: 10.15845/voices.v14i1.686.

Felsenstein, R. (2013). From uprooting to replanting: on post-trauma group music therapy for pre-school children. Nordic Journal of Music Therapy, 22(1),69–85. doi: 10.1080/08098131.2012.667824.

Lang, L., & McInerney, U. (2002). A music therapy service in a post-war environment. In J. P. Sutton (Ed.), Music, Music Therapy and Trauma: International Perspectives, 153–174. London, England: J. Kingsley Publishers.

Orth, J. (2005). Music therapy with traumatized refugees in a clinical setting. Voices: A World Forum for Music Therapy, 5(2). doi:10.15845/voices.v5i2.227

Weitere Informationen

Brücker, H., Jaschke, P., & Kosyakova, Y. (2019, December 01). Integrating refugees and asylum seekers into the german economy and society: Empirical evidence and policy objectives [PDF]. Washington: Migration Policy Institute.

Casey, R. (2019, November 11). The two contrasting sides of German refugee policy. Retrieved June 24, 2020, from https://www.thenewhumanitarian.org/news-feature/2019/11/11/German-refugee-integration-policy.

Schu, C. (2020, June 4). Fakten zur Asylpolitik 2019/2020 [PDF]. Berlin: Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration.

Trines, S. (2017, May 2). Lessons from Germany’s refugee crisis: Integration, costs, and benefits. Retrieved June 24, 2020, from https://wenr.wes.org/2017/05/lessons-germanys-refugee-crisis-integration-costs-benefits.

Trines, S. (2019, August 8). The state of refugee integration in Germany in 2019. Retrieved June 20, 2020, from https://wenr.wes.org/2019/08/the-state-of-refugee-integration-in-germany-in-2019.

UNHCR. (2020). Global trends: Forced displacement in 2020. Retrieved from https://www.unhcr.org/statistics/unhcrstats/60b638e37/global-trends-forced-displacement-2020.html.

Wallis, E. (2018, November 07). Is Germany facing a mental health crisis among refugees and migrants? Retrieved July 06, 2020, from https://www.infomigrants.net/en/post/13164/is-germany-facing-a-mentalhealth-crisis-among-refugees-and-migrants.

Storsve, V., Westbye, I. A., & Ruud, E. (2010). Hope and recognition: A music project among youth in a Palestinian refugee camp. Voices: A World Forum for Music Therapy, 10(1). doi: 10.15845/voices.v10i1.158.

Weitere Informationen

Mehr zum Projekt finden Sie hier.

Spendenaktion für die Fortsetzung von “Bridges”: www.betterplace.org/en/projects/112090

Webseite IKUMU – Verein für interkulturelle Musik: www.ikumu-verein.de.

Headerfoto: Samuel Gracid

Picture of Samuel Gracida

Samuel Gracida

Samuel Gracida stammt ursprünglich aus Mexiko, hat aber in China, den USA und Deutschland gelebt. Er spielt Gitarre und absolvierte einen Bachelor of Music an der Capital University in Ohio, USA. Außerdem absolvierte er einen Master in Musiktherapie an der SRH Hochschule in Heidelberg, Deutschland, und ist als Musiktherapeut in der Altenpflege im Theodor-Fliedner-Haus tätig. Samuel leitet ein Unternehmen mit internationalen Kunden aus der Musiktherapie, um deren Kommunikation und digitale Präsenz zu entwickeln.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Constanze Maly

    Ich arbeite seit 2016 mit verschiedenen Musikangeboten in verschiedenen Frankfurter Flüchtlingsunterkünften und habe dabei viel erlebt. Aktuell bin ich einmal wöchentlich in Rodelheim mit Kindern im Alter von 2- 14 Jahre.
    Außerdem mache ich eine Musiktherapie Ausbildung. Ich würde mich sehr über Austausch und Literatur zu dem Thema freuen. Conni Maly

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