Kaum jemand geht gern ins Krankenhaus. Selbst bei schwachem Leidensdruck ist Unsicherheit, Sorge oder sogar Angst im Spiel. Stress auf Seiten des Personals und Hektik bestimmen die Atmosphäre – auf der anderen Seite schier endloses Warten in Anspannung. Die multiplen Belastungen auf allen Seiten sind bekannt, häufig beschrieben und beforscht. Aber muss das so?
Musik und die gesamte auditive Umgebung haben nachweislich starken Einfluss auf Gesundheit, Heilung und Wohlbefinden. Dagegen erzeugt Lärm als unwanted sound (unerwünschter Klang) Stress und existenzielles Unwohlsein. Umso erstaunlicher, dass die meisten Krankenhäuser gewissermaßen einem akustischen Wildwuchs ausgesetzt sind. Sie sind weit davon entfernt, healing environments zu sein, obwohl dieser Anspruch bereits seit vielen Jahren besteht.
Das Wohlbefinden der Anwesenden verbessern
Im Projekt Healing Soundscapes, einer Kooperation zwischen Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, der Hamburger Hochschule für Musik und Theater und der MSH Medical School Hamburg, untersuchen wir seit einigen Jahren, wie Musik und die Beachtung von Klängen die Atmosphäre in Gesundheitseinrichtungen verbessern kann. Insbesondere widmen wir uns der Entwicklung von Musical Soundscape Interventions (MSI) – raumbezogenen Klanginterventionen. MSI zielen darauf ab, die Atmosphäre und damit das Wohlbefinden der Anwesenden zu verbessern (Weymann 2021).
In der aktuellen Ausgabe der Musiktherapeutischen Umschau (MU 2/2023) verschafft der peer-reviewte Artikel „Healing Soundscapes im Krankenhaus“ einen Überblick über die Genese, die theoretischen Hintergründe sowie die bisherigen Pilotprojekte und fasst die aktuellen Aktivitäten zusammen (Preißler et al. 2023). Eine Aktivität, die so aktuell ist, dass sie in den Printbeitrag keinen Eingang finden konnte, ist die Gründung des Teilprojekts Healing Soundscapes live. Die Beschreibung dieser Konzeptvariante ergänzt somit den MU-Artikel, den zu lesen wir Ihnen herzlich empfehlen möchten.
Das Modell mit Live-Improvisationen
Während sich Healing Soundscpapes bislang vornehmlich mit elektronischen Klanginstallationen befasste, entwickeln wir seit Anfang 2023 parallel Modelle raumbezogener Improvisationen, die wir mit geschulten Musiker.innen an verschiedenen Orten erproben. Ein erstes Improvisationsmodell konnten wir im Rahmen eines Wahlmoduls an der Medical School Hamburg auf der Grundlage von Prinzipien Neutraler Musik (Hajdu et al. 2017) sowie in Bezug auf Merkmale Therapeutischer Atmosphären (Sonntag 2013) entwickeln.
Ein freundliches Mitklingen
Gemeinsam mit neun Studierenden mehrerer Studiengänge gelangten wir, ausgehend von der hohen Komplexität der bisher im interdisziplinären Projekt durchgeführten Forschung zu etwas ganz Einfachem: Sonic Brightness, so der Name des Improvisationsmodells, verbindet im Wesentlichen lang nachklingende Glockentöne mit einem hellen Rieseln. Leibnahe Qualitäten von Weite und Helligkeit dominieren den Klang, der sich kontrastierend und balancierend in nichtmusikalische Umgebungen fügt. In den Worten einer beteiligten Studentin: Ein freundliches Mitklingen, das einen noch eine Weile begleitet.
Mit Räumen spielend in Beziehung treten
Methodisch entwickelten wir das Modell durch ein zirkuläres Vorgehen, in dem sich fachlicher Input, praktische Erfahrung und Reflexion abwechselten, begleitet vom Literaturstudium zur Wirkung des Auditiven. Um durchgehend eine forschende, investigative, reflexive Geisteshaltung zu kultivieren, gab es immer wieder Phasen des Schreibens, Nachdenkens und Diskutierens. Wir thematisierten die Auswahl des Instrumentariums, das Explorieren von Spielformen und performative Aspekte der Inszenierung. Besondere Beachtung schenkten wir den Räumen, die wir für die Praxiserprobungen auswählten, indem wir sie systematisch und unter Verwendung bewährter Beobachtungsbögen auditiv erforschten (Hajdu et al. 2017), um anschließend spielend mit ihnen in Beziehung treten zu können.
Intervention im Uniklinikum Hamburg-Eppendorf
Die Reihe der Praxiserprobungen, in der Sonic Brightness entstand, mündete in eine unter datenschutzrechtlichen Auflagen realisierte Klangintervention in der Eingangshalle des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE).
Die große, über mehrere Stockwerke reichende Eingangshalle wirkt mit ihren umlaufenden Galerien und der hellen Beleuchtung offen und transparent. Gleichzeitig offenbaren zahllose Hinweisschilder, Markierungen und abzweigende Gänge die verschachtelte Komplexität des Großkrankenhauses.
Menschen sind überwiegend unterwegs, suchen nach Orientierung (meist Besucher:innen und Patient:innen) oder wirken zielfokussiert (meist Klinikpersonal). In jedem Fall scheint die Halle bis auf wenige Ausnahmen (Sitzgruppe, Empfangstresen) ein unpersönlicher Ort zu sein, der hinter sich gelassen werden will. Die Klangkulisse ist deutlich grundiert von einem Warmluftgebläse im Eingangsbereich und dem dumpfen Rattern zweier Rolltreppen. Die Größe und Architektur lassen die Anmutung einer Flughafenhalle entstehen.
In diesen großen, vielschichtigen Raum verteilen wir uns, mischen uns ein, dezent, lauschend, schließlich spielend: Klänge, die nicht in Konkurrenz zu den Geräuschen der Umgebung treten, sondern sie kontrastieren, ihre Zwischenräume füllen. Töne erklingen in unbestimmten, langen Abständen. Sie bilden sich fortsetzende oder beantwortende Muster und sukzessive Intervalle, aber keine zusammenhängenden Melodien oder Harmonien. Langes Sustain bis zu mehreren Sekunden, weicher Anschlag, möglichst wenig Anspielgeräusch, insgesamt – mit Ausnahme des hellen Rieselns – werden Geräusche vermieden. Der Raum, unser wichtigstes Ensemblemitglied, spielt die Geräusche, wir die Töne. Hier und da, dann und wann, aus der Ecke, von oben rechts und unten links…
Reaktionen durchweg positiv
Die Reaktionen von Patient:innen, Besucher:innen und Klinikpersonal waren – soweit wir das beobachten konnten – ausnahmslos positiv. Wir nahmen wahr, wie neugierig nach der Quelle der Töne geschaut wurde, wie sich Blicke begegneten. Eine Gruppe junger Männer, die im Hintergrund an einem Tisch saßen, erschien am Geländer der Galerie, Finger zeigten auf uns. Der Mitarbeiter einer Reinigungsfirma trat aus einem Gang auf die arenaähnliche Fläche des Erdgeschosses, stutzte, rannte zurück und erschien kurze Zeit später mit einem Kollegen, den er lachend auf uns und die Klänge aufmerksam machte. Wir wurden angesprochen, erhielten Rückmeldungen. Ein Mutter-Tochter-Paar – die eine Besucherin, die andere Patientin – probierte eines der Instrumente selbst aus. Bei einigen entstand das Gefühl, für ein paar Minuten Teil einer freundlichen Gemeinschaft in dem großen, anonymen Raum zu sein. Ein Netz von Bezogenheit.
Healing Soundscapes im Ligeti-Zentrum
Diese Erfahrung ermutigte das Team, das Potenzial von Healing Soundscapes live weiterzuentwickeln. Eine nächste Gelegenheit, Sonic Brigthness zu realisieren, ließ zum Glück nicht lange auf sich warten: Das Healing Soundscapes Ensemble, wie sich die Gruppe mittlerweile nennt, durfte auf der Eröffnungsveranstaltung des Ligeti-Zentrums performen. In diesem von mehreren Hamburger Hochschulen gegründeten Labor für Innovation und gesellschaftlichen Transfer ist das Projekt Healing Soundscapes derzeit angesiedelt und erhält in den kommenden Jahren ausreichend finanzielle Unterstützung, um künstlerisch und technisch weiterentwickelt werden zu können. Wir werden auch hier im Blog weiter davon berichten.
Quellen
Hajdu, G., Carey, B., Lazarević, G., & Weymann, E. (2017). From Atmosphere to Intervention: The circular dynamic of installations in hospital waiting areas. International Conference on New Interfaces for Musical Expression, 364-369.
Preißler, P., Weymann, E., Hajdu, G. & Sonntag, J. (2023). Healing Soundscape im Krankenhaus. Raumbezogene Klanginterventionen aus Sicht der Musiktherapie. Musiktherapeutische Umschau, 44 (2), 91-103.
Sonntag, J. (2013): Demenz und Atmosphäre. Musiktherapie als ästhetische Arbeit. Frankfurt: Mabuse.
Weymann, E. (2021). Healing Soundscape. In H.-H. Decker-Voigt & E. Weymann (Eds.), Lexikon Musiktherapie (3rd ed., pp. 239-243). Göttingen: Hogrefe.
Dieser Beitrag hat einen Kommentar
Es ist wirklich schön zu sehen, wie Projekte wie “Healing Soundscapes” Kunst, Technologie und sozialen Nutzen miteinander verbinden können. Ein großes Kompliment an die Mitwirkenden.