Fachtagung 2024 UdK Neue Dimensionen durch Digitalisierung in der Musiktherapie

Fachtagung “Neue Dimensionen der Musiktherapie durch Digitalisierung”?

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So hatte es begonnen: Der Masterstudiengang Musiktherapie an der Universität der Künste Berlin (UdK) war im Frühjahr 2022 in Frage gestellt worden aufgrund neuer Absichten der Leitung des Berlin Career College im Blick auf digitale Transformationen.  Die Musiktherapie hatte plötzlich nicht mehr ins Programm des Weiterbildungsinstituts der UdK gepasst. Bewerbungsverfahren waren gestoppt und nach Protesten wieder zugelassen wurden.
Es blieb die Frage: Wie könnte die Musiktherapie neu digital ausgerichtet werden? Ziel einer „Task Force“ war es nun in den Jahren 2022/2023, eine entsprechende Weiterentwicklung zu entwerfen. Mit dabei: Leitung und Mitglieder der UdK, Digitalexperten, Musiktherapeut:innen, Studierende sowie Experten aus der Gesundheitsversorgung. Sie erstellten auch das Profil für die Neubesetzung der Professur von Susanne Bauer, die im Jahr 2024 ausgeschrieben wird. Die Tagung in Berlin Anfang November 2023 fasste die Ergebnisse der Task Force zusammen.

Digitale Transformation – Schlüsselwort unserer Zeit. Digitalisierung ist seit Jahren eines der hochaktuellen Themen in unserer Gesellschaft; sie bewegt uns gerade in diesen Zeiten und verstärkt nach Corona. Und das vor allem in einem Land, dem bescheinigt wird, dass es deutlich hinter anderen Ländern in der Digitalisierungsfrage zurückliegt. Der Präsident der UdK Berlin, Norbert Palz, bekannte sich gleich zur Neuentwicklung der Musiktherapie an der UdK mit den Fragen, die über der Tagung standen:

„Wie werden wir kommunizieren, was sind die Vorteile des Digitalen, welche Prozesse werden sich entwickeln – in Psychologie, Therapie, Medizin bis hin zum Instrumentenbau. Experimentelle multidisziplinäre künstlerische Prozesse müssen schleunigst her – am besten in einem Forschungsinstitut.“

In ihrer Einladung zur jährlichen Berliner Tagung hatten die Veranstalterinnen, Prof. Susanne Bauer und Prof. Dorothea Muthesius, auf musiktherapeutische digitale Strategien hingewiesen, die sich bereits vor oder mit Corona entwickelt hatten, zum Beispiel mit Kindern und Jugendlichen, weil ihnen der Umgang mit digitalen Medien schon immer vertraut war oder mit Erwachsenen, um in Krisenzeiten therapeutische Prozesse auf digitalem Weg aufrecht erhalten zu können. Teilweise improvisiert waren auch didaktische Schritte entstanden zur Vermittlung neuer Kompetenzen.  Allerdings entstünden, so die Veranstalterinnen, Fragen nach der „therapeutischen Beziehung“:

„Kann eine therapeutische Beziehung digital funktionieren, wenn ja, dann wie und welches sind die Unterschiede zur analogen Beziehungsgestaltung? Wieviel sinnlich-körperliche Selbst- und Beziehungserfahrung ist mit digitalen Musikpraktiken möglich?“

Wie digital ist Deutschland?

Am Ende der Tagung setzt die aus dem Schwäbischen stammende Deutsch-Amerikanerin Dr. Petra Kern folgenden Schlusspunkt:

„Für mich war das so eine Art Kulturschock, als ich wieder nach Deutschland kam. Deutschland ist digital wirklich hinterher. In der amerikanischen Kultur probieren wir etwas aus und wenn es nicht klappt, dann ändern wir es“.

In Deutschland werde diskutiert, ob es denn klappt und wie und dann sei der Zug schon längst abgefahren…, hier werde nicht losgelegt. Die Professorin aus den USA legte dann auch gleich los mit einem einführenden Vortrag zur Geschichte, zum Paradigmenwechsel und zum digitalen Wandel in der Musiktherapie. „Angleichen, Umgestalten, Aktualisieren“ – das seien die Schritte zum digitalen Wandel. Schon immer seien Musiktherapeut:innen mit Medien unterwegs gewesen, wobei die technischen Entwicklungen verantwortlich seien für den fortschreitenden Wandel. Die Pandemie hat die Entwicklung der „Telepraxis Musiktherapie“ enorm beschleunigt. Petra Kern:

„Was ist nun bereits Realität, was Vision: Wie sieht es aus mit digitalen Instrumenten, mit der virtuellen Realität, mit Musikkiosken, mit Robotern, mit KI-Daten?“

Fachtagung 2024 UdK Neue Dimensionen durch Digitalisierung in der Musiktherapie. Vortrag Dr. Petra Kern
Vortrag von Dr. Petra Kern. Foto: UdK

 

Kerns Thesen, um Digitale Musiktherapie weltweit weiterzuentwickeln:

–         Sie erleichtere den Zugang zu musiktherapeutischen Angeboten,

–         schütze das Wohl von z.B. immunschwachem Klientel,

–         beschleunige Zusammenarbeit und Wachstum des Fachgebiets und

–         erweitere digitale Kompetenzen von Musiktherapeut:innen.

Voraussetzungen für die Telepraxis Musiktherapie

Anhand der sechs Schritte in der Praxis der Musiktherapie stellte die Professorin die Frage, wo in der Telepraxis Musiktherapie „angeglichen, umgestaltet und aktualisiert“ werden müsste, damit therapeutische Prozesse gelingen können.:

–         Therapeutisches Setting,

–         Rapport – therapeutische Beziehung,

–         Assessment – Anamnese,

–         Therapieplan – Therapieziele,

–         Session – Therapiesitzung,

–         Dokumentation – Evaluation.

Dazu dienten ihr Beispiele, die sie auf die sechs Schritte bezog.

Setting in der Telepraxis

Im Bereich Setting zeigte sie anhand zahlreicher Kriterien die Bedingungen für ein geeignetes Setting in der Telepraxis Musiktherapie auf. Dazu gehören zum Beispiel die technischen Voraussetzungen wie ein natürliches Frontlicht, ein Apogee-Mikrofon mit Pop-Filter, ein iMac mit eingebauter Kamera, eine Glasfaser-Hochgeschwindigkeitsverbindung, ein Zoom Pro mit Originalton für Musiker-Set, ein erstellter Zoom-Hintergrund, der eindeutig auf die Therapeutin und auf die Musiktherapie hinweist.

Darüber hinaus müsse die Therapeutin mit einem 1/3 Porträt sichtbar sein, damit ein engagierter Blickkontakt möglich ist, ebenso müssten Liedfolien, ein Tamburin-Instrumentalstück, die Jazzy ABC-App, die Froschpuppe sowie eine Ukulele und ein Tamburin sichtbar sein. Vor dem Beginn der Telepraxis sei Kamera, Ton, Hintergrund und Beleuchtung zu testen. Auf Seiten des Klienten sollten digitale Geräte, Internet und Instrumente verfügbar sein.

All diese Voraussetzungen zeigen eine professionelle Zugangsweise, die ein Angleichen, Umgestalten und Aktualisieren der alltäglichen Praxis für die Telepraxis ermöglicht. Zwei weitere Beispiele:

Rapport – therapeutische Beziehung

Im Teil 2, dem Rapport, dem Vertrauensaufbau und Herstellen der therapeutischen Beziehung zeigte Kern folgende Kriterien auf: Ein digitales Aufnahmeformular zur Teilnahme an einer digitalen Intervention samt Einverständnis und Datenschutzerklärung sowie die Klärung der Rollen, Erwartungen, & Ziele samt Netiquette. Dazu steht ein ausführlicher Fragebogen zur Verfügung.

Beim Therapieplan bezog sich die Referentin auf 3 Stufen: Zusammenstellung vorhandener Online-Ressourcen für Klienten (Musikplaylists, – videos, – apps), Schaffen von Online-Inhalten für Klienten, Implementieren von Teleinterventionen, hierbei sind gemeint: via Zoom verschiedene Settings, spezifische Methoden, digitale visuelle Unterstützung, Apps, digitale Instrumente & Musiksoftware bereitzustellen.

Die Professorin aus den USA demonstrierte anhand von praktischen Ausschnitten aus ihrer musiktherapeutischen Arbeit per Video mehrere Beispiele – mit einem entwicklungsverzögerten Kind und auch mit einem erwachsenen Patienten mit Angststörungen.

„Was wird nun die Zukunft bringen, welche Entwicklung wird entstehen?“

Virtual Reality, Künstliche Intelligenz in digitalen Interventionen

Neue Technologien wie Virtual Reality (VR) und Künstliche Intelligenz (KI) werden sich fortsetzen mit individualisierten Therapieansätzen, so Petra Kern. Dazu braucht es evidenzbasierte Therapiepläne für digitale Interventionen, die mit Datenmengen analysiert (Big Data und Data Mining) werden, wobei der ethische Datenschutz essenziell sei. Kern sieht die Notwendigkeit weiterer Forschung; sie ist sich sicher, dass die Digitalisierung der Musiktherapie neue Dimensionen eröffnen kann, so ihr Fazit zum digitalen Wandel:

„Es geht nicht darum, Menschlichkeit oder therapeutische Beziehungen durch Technologien zu ersetzen, sondern zu fragen, wie Technologie hilfreich werden kann, um menschliche Fähigkeiten zu erweitern.“

Petra Kern zeichnete mit ihrer Telepraxis Musiktherapie deutlich auf, wie professionell sich die digitale Musiktherapie-Entwicklung mit Corona in den USA vollzogen hat und sicher auch weiter vollziehen wird. Einer der Ausgangspunkte hierfür sind die enormen Entfernungen, die sich zum Beispiel in den USA, aber auch in Australien ergeben und die solche Entwicklungen befördern. Sicher einer der Unterschiede zu Deutschland – ein anderer ist aber auch eine andere Haltung zur digitalen Transformation.

Welche digitalen Kompetenzen werden gebraucht?

Das Fazit von Petra Kern, dass therapeutische Beziehungen nicht durch Technologien ersetzt werden können, teilte auch Josephine Geipel, Professorin in Augsburg, bei ihrem bunten Strauß der Konzepte in Bezug auf die Vermittlung digitaler Kompetenzen im Musiktherapie-Studium. Ihre Grundfragen:

Welche Kompetenzen welcher Art werden Musiktherapeut:innen im Kontext der digitalen Transformation zusätzlich benötigen? Wie kann eine verantwortungsbewusste, reflektierte und flexible Anwendung des neuen Fachwissens und der neuen musiktherapeutischen Methoden in die musiktherapeutische Praxis und Anwendung integriert werden?

Hierbei geht es, so Geipel, um ganz verschiedene Handlungskompetenzen, die sich auf die Selbst- und Sozialkompetenz wie auf die Fachkompetenz und Methodenkompetenz beziehen.

  • Bei der Selbst- und Sozialkompetenz benötigten Musiktherapeut:innen Fähigkeiten wie eine reflektierte Haltung, verantwortungsbewusste und flexible Anwendung digitaler Medien, eine Beachtung der therapeutischen Beziehung im Zusammenhang mit Technik, interdisziplinäre Zusammenarbeit und Kommunikation, Kreativität im Umgang mit den erweiterten Herausforderungen.
  • Bei der Fachkompetenz seien gefragt: Pädagogik, Recht, Musik, Wissenschaft, wie Musiktherapie, Gesundheitswesen, Psychologie und Medizin.
  • Bei Psychologie und Medizin gehe es um Aspekte wie: Arbeitswelt 4.0, Technostress, innovative Behandlungs- und Pflegeansätze, neue Phänomene der Psychopathologie.
  • Im Gesundheitswesen müssten folgende Bereiche beachtet werden: E-Health, elektronische Patientenakte, e-Rezept, veränderte Kommunikation, Telemedizin, digitale Überwachung von Gesundheitsdaten, Videosprechstunde und auch Künstliche Intelligenz (KI) und personalisierte Medizin.
  • Beim Thema Musik sieht Geipel vor allem sich ständig verändernde neue Musiktechnologien als Anforderung. Und beim Thema Recht kommen, so Josephine Geipel, u.a. die Themen Nutzung von Software-Lizenzen, Datenschutz, GEMA ins Spiel.
  • Beim Thema Musiktherapie seien die auf digitalen Wegen beruhenden musiktherapeutischen Ansätze und Methoden zu beachten, zum Beispiel: Soundscapes, Rap Music Therapy, Telehealth. Auch die Erweiterung des musikalischen Ausdrucks durch Musiktechnologien in der Musiktherapie seien zu bedenken und ebenso die Grenzen digitaler Techniken in der Musiktherapie.
  • Die Methodenkompetenz müsse beim Einsatz digitaler Techniken Fertigkeiten von Musiktherapeut:innen berücksichtigen wie Therapeutische Praxis, Organisation und Dokumentation, wissenschaftliche und evidenzbasierte Praxis.

Was ist der therapeutische Nutzen digitaler Technologien?

Die therapeutische Praxis beziehe sich auf Interventionen, Assessment und Telehealth: eine wirksame, reflektierte und an den therapeutischen Zielen und den Patient:innen ausgerichtete Integration digitaler Technologien. Dabei muss auch der therapeutische Nutzen digitaler Technologien eingeschätzt werden, damit eine professionelle Anwendung entstehen kann.

Die Referentin Geipel zeigte sich als wahre Zukunftsexpertin bei diesen Fragestellungen; sie denkt bereits in das nächste Jahrzehnt vor. Ein Bereich, der noch der Realisierung bedarf, aber vor allem für die künftigen Musiktherapeut:innen, die digital aufgewachsen sind, eine Rolle spielen wird. Bisher sind die staatlich anerkannten Ausbildungen wie auch die entsprechenden privatrechtlichen Ausbildungen kaum mit dem Einsatz erweiterter digitaler Techniken befasst. Ob eine künftige Berliner Ausbildung sich verstärkt darauf beziehen wird, wie es der Präsident der UdK prognostiziert?

Ständig neue Aspekte des Digitalen – Interaktionsverhalten, Wahrnehmung, Körperbewegungen

Die Einlassung des langjährigen Digitalisierungsexperten der UdK Berlin (Forschungsstelle Appmusik), Matthias Krebs, jetzt mit einer wissenschaftlichen Stelle am Mozarteum in Salzburg verbunden, war insofern ernüchternd, weil klar wurde, welche Aspekte das Digitale insgesamt aufweist von einzelnen, sich fortlaufend immer weiter entwickelnden Technologien über Steuerprinzipien und Spielweisen im Interaktionsverhalten bis zur Wahrnehmung und Körperbewegungen in der digitalen Musikpraxis. Krebs beleuchtete das mit einigen Beispielen aus dem pädagogischen Bereich, in dem ein veränderter Zugang zum Musik-machen entstehen kann. Für therapeutische Zusammenhänge brachte dieser Einwurf eher wenig.

Problem der Medizin: die Kommunikation

Einen gewissen Kontrapunkt setzte die Leiterin der psychosomatischen Hochschulambulanz des Charité Campus Benjamin Franklin, die Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Dr. Adak Pirmorady. Digitalisierung sei in der Medizin eine absolute Notwendigkeit, weil sie immer wieder neue Hilfestellungen und Entdeckungen geben könne wie zum Beispiel bei Diagnose und Therapieunterstützung, durch digitale Bildgebung oder auch Telemedizin bis hin zur elektronischen Patientenakte:

„An der Digitalisierung kommen wir nicht vorbei, es ist großartig, was da im Moment in der Medizin passiert“.

Fachtagung 2024 UdK Neue Dimensionen durch Digitalisierung in der Musiktherapie. Vortrag Dr. Adak Pirmorady
Fachtagung 2024 UdK Neue Dimensionen durch Digitalisierung in der Musiktherapie. Vortrag Dr. Adak Pirmorady

 

Die Ausgangssituation in der Medizin sei vordergründig ein mechanisches und biowissenschaftliches Modell zum Beispiel durch die Ver-Objektivierung von Menschen. Für ihr eigenes Verständnis setzte sie eher ein Fragezeichen. Das Problem sei die Kommunikation in der Medizin. In ihrem Beitrag „Parallelen zwischen der freien Assoziation und der Kreativtherapie und die Bedeutung der Genesung“ griff sie zur Frage zurück, wie früher Menschen mit Angst, Erkrankungen und Anspannungen umgegangen sei.

„Künstlerische Therapien haben den Vorteil, dass sie viel schneller und tiefer zur Konflikt- und Krisenbearbeitung führen können als zum Beispiel die Gesprächstherapie und Wortmedizin“.

Medical Humanities – der Blick über den Tellerrand

Das sei eindeutig ein Plus. In ihrer historisch ganzheitlichen Sicht der Humanmedizin bezog sich Pirmorady auch auf das Konzept der „Medical Humanities“. Mit dem Begriff sind Konzepte verbunden, die Defizite einer technisierten Medizin ausgleichen sollen, eine Schnittstelle von Medizin, Geisteswissenschaften und Kultur. Medizinisches Handeln und Denken wird in einen größeren Kontext eingeordnet, es wird über den Tellerrand der naturwissenschaftlich geprägten Medizin geschaut. An einigen Universitäten in Deutschland wird das Fach mittlerweile angeboten.

Medizinisches Fachpersonal mit Vielfalt menschlicher Bedürfnisse vertraut machen

Ziele sind: Das Fachpersonal der Medizin u.a. durch kreative Tätigkeiten mit der Vielfalt menschlicher Bedürfnisse vertraut zu machen, die Reflexion der eigenen Arbeit, die Sichtweise von Patient:innen, die interdisziplinäre Arbeit und die ethische Entscheidungsfindung soll erfahren werden. Die Sensibilität für menschliche Not und die erforderliche Hilfe soll entstehen und bewahrt werden. In der medizinischen Ausbildung spielt das an einigen Unikliniken bereits eine Rolle, an der Charité Berlin, in Nürnberg, Bonn, Bielefeld und anderen. So werden zum Beispiel Studierende an der Uniklinik in Düsseldorf zu einem „Medizintheater“ eingeladen. Pirmorady setzt sich dafür ein, die Gebiete stärker miteinander zu vernetzen. Sie tritt für niederschwellige kulturelle Aktivitäten in Kliniken ein und hat hierzu auch einen Verein gegründet, die Europäische Künstlergilde für Medizin und Kunst (https://eu.kmk.eu)

„Der Mensch als Organismus, der Kultur schafft, kann nur in seiner Ganzheitlichkeit sein, wenn es eine Integration der Kultur gibt. Das bedeutet: Es gibt keine Kultur ohne den Organismus Mensch und es gibt keinen Organismus Mensch ohne seine Kultur. So kann es ohne Kultur auch keinen gesunden Organismus Mensch geben.“ (Adak Pirmorady)

Für und Wider von neuen Technologien in der therapeutischen Praxis

In den Abschlussgesprächen der UdK-Tagung in Berlin zeigte sich, dass der Einsatz des Digitalen in der Therapie einerseits für einige ganz normal ist, andere sich aber damit schwertun.

So freute sich Josephine Geipel, dass sich die digitale Diskussion in den letzten Jahren weiterentwickelt habe. Vor vier Jahren habe man sich noch über das Thema digitaler Klang ausgetauscht, heute gehe es um praktische Modelle und um Inhalte. Für Petra Kern gibt es eine ästhetische Frage hierbei: Gefühle seien durchaus möglich durch Digitales, Energie sei spürbar im digitalen Raum, auch bei der Telepraxis Musiktherapie. Es komme sehr stark auf die Therapievorbereitung wie auf das professionelle Setting an, damit ästhetische Erfahrungen im digitalen Raum durch visuelle Unterstützung entstehen. Emotionen von Gesichtsausdruck seien im Spiegel zu sehen. Für sie ist die Frage nach der Präferenz wichtig: Was soll erreicht werden, was soll entstehen? Das müsse im Assessment geklärt werden, die Bereitschaft könne entstehen, in der Therapie Atmosphäre geben zu wollen.

Allerdings könne Künstliche Intelligenz eine Therapie nicht ersetzen, das sei ein „Schreckgespenst“. Für die Psychoanalytikerin Pirmorady kann nichts, auch keine noch so ausgefeilte Technologie, eine therapeutische Beziehung ersetzen.

Weiterhin ein Zwiespalt zwischen analog und digital?

In der Runde der praktizierenden Musiktherapeut:innen, vorwiegend Alumni des Studienganges, berichtete J. Geipel in Vertretung von Anne-Katrin Jordan über einen gemeinsamen Versuch mit ChatGPT zur Frage, welche Bedeutung dies für die Musiktherapie haben könne. Bei Songwriting seien Phantasiereime unterstützend durch die Sprach-KI gewesen. Aber auch bei der Erstellung von Playlists, die ganz bestimmte Fragestellungen (z.B. Lieder in DDR-Tanzlokalen in den fünfziger Jahren) enthalten, könne ChatGPT hilfreich sein, sowie in der Vorbereitung von Sessions. Wo die Grenzen sind und was hilfreich ist, das müsse die Praxis zeigen.

Silke Reimer, die mit Schwerstmehrfachbehinderten arbeitet, setzt zu 100 Prozent auf analoge Arbeit. Ihr fehle das, was der Digitalität vorausgeht, die Frage, welche Kompetenz Patient:innen hätten. Bei basalen Störungen komme es auf Entwicklungsstand und Befindlichkeit an, Unruhe, Affekte, der körperliche Zugang zu Emotionen. Emotionen könne nur der Mensch erkennen, das Problem sei, wenn körperlicher Einsatz und Emotionen nicht zusammenpassen.

Nadja Grothe arbeitet vor allem mit Kindern und Jugendlichen. Bei der Diagnose sei vor allem auch der Medienkonsum zu beachten; ein Weg sei es, Kinder und Jugendliche zum Beispiel mit Musikapps abzuholen, vor allem auch diejenigen, die sozial isoliert seien und eine Beziehungsorientierung brauchten. Ihr Ziel sei es vom digitalen zum klassischen musiktherapeutischen Setting zu kommen. Technologien seien für sie Hilfsmittel, sie könnten auch bei Klang oder Stimmverfremdungen hilfreich sein, um Distanz ermöglichen zu können.

Fachtagung 2024 UdK Neue Dimensionen durch Digitalisierung in der Musiktherapie
Die Vortragenden der Fachtagung 2024 an der Universität der Künste Berlin. Foto: UdK

 

Auch aus der Runde der Zuhörer:innenschaft war der Zwiespalt im Verhältnis analog-digital erkennbar. Einerseits werde Energie und Atmosphäre vermisst, andererseits käme man nicht um die Digitalisierung herum:

„Wir müssen uns überlegen, wie wir das gestalten“.

Schließlich fragte ein längjähriger und erfahrenerer Musiktherapeut:

„Was mache ich jetzt? Muss ich meine Musiktherapie umbauen, neu entwickeln?“

Jede:r müsse für sich individuell die Fragen beantworten und schauen, ob in der eigenen Arbeit eine digitale Transformation zur Wahl steht…, so die Veranstalterinnen Prof. Susanne Bauer und Prof. Dorothea Muthesius in ihrem Schlusswort:

„Wichtig ist es, eine Offenheit haben zu fragen: was möchte ich, was nicht, was kann ich gut und was möchte ich verändern. Es gibt ein ‚sowohl – als auch‘. Jede:r muss hier seine und ihre Rolle finden.”

Fazit

Eine gelungene Veranstaltung, weil hier Fragen diskutiert wurden, die den digitalen Prozess der Musiktherapie im Jahr 2023 berührten und aus deutscher Sicht weit in die Zukunft verweisen. Digitale Welten verändern sich rasant und permanent und wir alle sind mit dabei und mittendrin. Musiktherapie ist einerseits längst aus der analogen Nische heraus, braucht aber viele gedankliche, experimentelle, forschende, materielle Investitionen in die digitale Zukunft hinein, gerade auch von denen, die bereits digital aufgewachsen sind und nichts mehr anderes kennen – eine weltweite Entwicklung, von der die deutsche Musiktherapie profitieren wird. Herausforderungen für alle. Ein Zurück in die Nische wird es nach meiner Ansicht nicht geben. Diejenigen, die schon länger praktizieren, wird das sicher nur ansatzweise, aber nicht mehr existentiell betreffen. So bleiben vor allem Fragen, welche Entwicklungen wie schnell und intensiv – aufgrund von Praxis und Forschung – sich ausbilden werden.

Links und bibliografische Angaben

Fachtagung an der UdK Berlin “Neue Dimensionen der Musiktherapie durch Digitalisierung” am 11. November 2023 – Flyer und Programm.

Knott, David, Kern, Petra, & Block, Seneca (2023). Digital music therapy 2.0: Reflecting, connecting, and innovating with the global community. Proceedings of the 17th World Congress of Music Therapy. Music Therapy Today 18(1), 248–249.

Knott, David & Block, Seneca (2020). Virtual Music Therapy: Developing New Approaches to Service Delivery. Music Therapy Perspectives Sep 8:miaa017. doi: 10.1093/mtp/miaa017. PMCID: PMC7529048.

Kern, Petra & Furman, Amy (2021). Inside Early Childhood Music Therapy: Exploring a Flexible Online Service Delivery Model During COVID-19. Imagine 12. 12-23.

Krebs, Matthias (2023). Körperlichkeit in digitalen Musikpraktiken mit Apps. Musikpädagogische Forschung / Research in Music Education, Band 44. 323-345. doi:10.31244/9783830997641.19.

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Volker Bernius

Volker Bernius, Studium der Theologie, Musik, Psychologie. Seit 1979 Redaktionsmitglied der Musiktherapeutischen Umschau, ab 1986 Chefredakteur, Beisitzer im Vorstand der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft: Von 1981 bis 2015 Bildungs-, Kultur- und Wissenschaftsredakteur Hessischer Rundfunk, Mitgründer und Fachbeirat der Stiftung Zuhören, Journalist, Autor, Herausgeber, Dozent.

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