Der Klappen- (und Werbe-)Text bringt es auf den Punkt – in aller Kürze und Knappheit:
„Über 70 Expert:innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz haben 101 Standardwerke der Musiktherapie in kurzen Rezensionen zusammengefasst und kommentiert. Sie nehmen die Lesenden mit auf eine Reise durch die wissenschaftlich-akademische Entwicklung der Musiktherapie seit 1958 und geben damit Einblick in die Professionalisierung der Disziplin über eine Zeitspanne von gut 60 Jahren. – Das Spektrum der vorgestellten Beitragswerke und Monografien umfasst für die Praxis bedeutsame Felder – von der Neonatologie bis zur Hospizarbeit – und für Theoriebildung, Geschichte und Forschung der Musiktherapie wichtige Veröffentlichungen. Somit gibt der Literaturkompass einen repräsentativen Überblick über die (primär) deutschsprachige Musiktherapie-Literatur“.
101 Standardwerke, über 70 Expert:innen, 60 Jahre Entwicklungsgeschichte – schon das sind beeindruckende Zahlen. Das Herausgeberteam selbst fügt weitere Zahlen an:
180 Zentimeter Länge der Werke im Bücherregal, deren Gewicht gute 47 Kilo, Kostenpunkt aller genannten Bücher über 2.700 Euro, auf 221 Seiten Rezensionen von 74 Kolleg:innen, insgesamt 25.898 Seiten Fachliteratur“ (18).
Doch damit noch nicht genug: besonders hervorgehoben wird auch die „Sichtbarkeit“ von Frauen:
„Während in den hier präsentierten Werken bis 1979 keine einzige Frau als Herausgeberin oder Autorin aufscheint, liegt das Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Autor:innen/Herausgeber:innen in der Zeit zwischen 1980 und 1999 bei 14 zu 13. In den letzten 21 Jahren hat sich das Verhältnis umgekehrt, sodass 56 männliche und 61 weibliche Autor:innen/Herausgeber:innen vertreten sind“ (20).
Die älteste vertretene Autorin ist die 1897 geborene Juliette Alvin mit ihrem 1988 auf Deutsch erschienenem Buch „Musik und Musiktherapie für behinderte und autistische Kinder“; der jüngste Mitstreiter ist mit Jahrgang 1991 fast 100 Jahre später der Rezensent Manuel Jakob Goditsch.
Die Auswahl ist zwangsweise selektiv
Die Auswahl von 101 Büchern, als „Standardwerke“ etikettiert, erfolgte nach der subjektiven Einschätzung des Herausgeberteams und der Befragung von einigen musiktherapeutischen Kolleg:innen nach ihren „Top 25“. Bedenkt man, welche Fülle an Schrifttum in 60 Jahren entstanden ist, muss die Auswahl zwangsweise selektiv und mehr oder weniger zufällig sein. Das gilt entsprechend auch für die Einbindung einiger weniger englischsprachiger Werke. Über diesen subjektiven Faktor ließe sich also trefflich und herzhaft streiten, was aber auch eines der Anliegen des Buches ist.
Gibt es Fachbücher ohne theoretischen Hintergrund?
Die 101 Werke sind chronologisch nach ihrem Erscheinungsjahr angeordnet, beginnend mit Hildebrand R. Teirichs „Beiträge zur Musiktherapie“ aus dem Jahr 1958 und endend mit Hannah Riedl’s Sammluung von Quellentexten zu Alfred Schmölz und der Wiener Musiktherapie unter dem Titel „Wollen Sie wirklich spielen?“ aus dem Jahr 2021. Eine thematische Einordnung aller Werke nach musiktherapeutischen Arbeitsfeldern mitsamt Hinweisen, ob es sich schwerpunktmäßig um Praxis, Theorie oder Forschung handelt, findet sich in Tabellenform im Anhang. Kurios erscheint dabei, dass 6 von 101 Büchern nicht der Rubrik „Theorie“ zugeordnet werden, 95 hingegen sehr wohl. Man fragt sich, ob es überhaupt möglich ist, ein Fachbuch ohne theoretischen Hintergrund zu verfassen.
Lebendigkeit durch persönlichen Bezug der Rezensent:innen
101 Bücher haben 101 Rezensent:innen, auch hier aus den drei deutschsprachigen Ländern; 31 von ihnen sind – quasi in Doppelfunktion – auch Autor:innen/Herausgeber:innen oder umgekehrt. Sie orientieren sich an einer einheitlichen Gliederung, nämlich Informationen zur Autorin/zum Autor, Ausführungen zum Inhalt, Bedeutung des Werkes und persönlicher Bezug. Wenngleich der letztere Punkt fakultativ zu bearbeiten war, zeigt sich doch gerade in den vielen Beispielen, wie stark sich Erfahrungswissen über Generationen vererbt und verarbeitet wird und zur Lebendigkeit der Szene in ihren fachlichen Bezügen beiträgt.
Ein an Stolpersteinen reicher Weg
Die chronologische Anordnung der Werke ist zugleich der berühmte inhaltliche „rote Faden“ im „Kompass“. Sie soll – nach dem Wunsch des Herausgeberteams – zugleich die Entwicklungsgeschichte der Musiktherapie aufzeigen und den Weg ihrer Professionalisierung dokumentieren. Ob sich beides, Entwicklungs- und Professionalisierungsgeschichte, aus der bloßen Aneinanderreihung von als wichtig erachteten Büchern, quasi additiv nach Jahreszahlen, erschließt, ist eine Frage.
Ältere „Jahrgänge“ unter den Musiktherapie-Kolleg:innen werden die diesbezüglichen Hürden und Klippen, die Durchbrüche und frei gewordenen Wege in den jeweiligen Werken wohl wiedererkennen und sich hie und da vielleicht gern oder auch nicht so gern erinnern. Jüngeren Kolleg:innen oder gar „Frischlingen“ und Außenstehenden rate ich, das Buch rückwärts zu lesen, also hinten zu beginnen. Sie werden dann eher erkennen, ggf. auch staunen, welchen an Stolpersteinen reichen Weg die Musiktherapie über (Grundlagen-)Forschung, Theoriebildung, Grenzziehungen, Integration angrenzender Ansätze aus Psychotherapie, Medizin, Pädagogik, Sozial- und Sonderpädagogik etc. etc. gehen musste, um zu diesem heute so eindrucksvoll reichen und fachdisziplinär gut versorgten Feld musiktherapeutischer Anwendungen zu kommen, wie sie sich in diesem Buch präsentieren.
Die Zeitachse als Ordnungsprinzip
Herausgeberteam und Rezensent:innen möchten das Lesevergnügen als eine Reise, gegebenenfalls als Entdeckungsreise, bisweilen auch als einen Spaziergang (noch lockerer) verstehen. Ein Kompass – Anzeiger von Himmelrichtungen – soll dabei unterstützend sein. Was sich an Lesenswertem und an (Originalton) „Horizonterweiterungen“ unter den jeweiligen Himmelsrichtungen befindet, welche fachlichen Positionen im Norden, Süden, Westen oder Osten liegen und warum jeweils dort, aus der Vergangenheit, der Gegenwart oder mit Blick auf die Zukunft, das bleibt der Einschätzung der Leserinnen und Leser überlassen. Die chronologische Ausrichtung ist Ordnungsprinzip, aber mehr will sie auch nicht sein. Richtungswechsel, Kursänderungen, Umwege sollen die Lust am Lesen befördern.
„Für die Musiktherapie ist ein solches Unterfangen unseres Wissens etwas ganz Neues und Einmaliges“,
heißt es in der Einleitung, die mit einem Zitat von Francis Bacon schließt:
„Books are ships which pass through the vast sea of time“ .
Thomas Stegemann, Sandra Lutz Hochreutener, Hans-Ulrich Schmidt, (Hg): Literaturkompass Musiktherapie. Eine Reise durch Praxis, Theorie und Forschung mit 101 Büchern. Mit einem Geleitwort von Hans-Helmut Decker-Voigt. Buchreihe: Therapie & Beratung, Psychosozial-Verlag, 268 Seiten.
ISBN-13: 978-3-8379-3156-3, Euro 29,90
Abbildung Umschlag und Coverbild von Juan Gris, ‘La guitare devant la mer’, 1925: mit freundlicher Genehmigung des Psychosozial-Verlags.