Musiktherapie im Schlaf bei Frühgeborenen wirksam, von Dr. Susann Kobus. Foto: Stiftung Universitätsmedizin Essen/ Foto: Jürgen Heger

Musiktherapie ist auch im Schlaf bei Frühgeborenen wirksam

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Die kürzlich am Universitätsklinikum Essen durchgeführte Studie zeigt, dass Musiktherapie positive Auswirkungen auf die Vitalparameter Herzfrequenz, Atemfrequenz und Sauerstoffsättigung bei frühgeborenen Kindern hat, wenn sie im Schlaf durchgeführt wird.

Frühgeborene sind Neugeborene, die vor Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen. Jedes Jahr werden weltweit etwa 15 Millionen Kinder zu früh geboren. Die Tendenz ist steigend (Chawanpaiboon et al., 2019). Obwohl Frühgeborene nicht primär krank sind, kann die Unreife der Organe kurz- und langfristig zu verschiedenen medizinischen Problemen führen.

In den letzten Jahren hat sich dank der verbesserten perinatalen Versorgung die Überlebensrate von Frühgeborenen stark verbessert (Parikh, 2016). Während Frühgeborene, die nach Vollendung der 32. Schwangerschaftswoche (SSW) geboren werden ein ähnliches Outcome wie Reifgeborene haben, treten die schwerwiegendsten Komplikationen bei sehr unreifen Frühgeborenen (geboren vor Vollendung der 32. SSW), insbesondere bei extrem unreifen Frühgeborenen (geboren vor Vollendung der 28. SSW) auf (Moon et al., 2000; Haslbeck et al., 2017). Insgesamt leidet etwa ein Viertel der überlebenden Frühgeborenen an einer erheblichen neurologischen Beeinträchtigung (Ghetti et al., 2021). Dies lässt sich u.a. auf die Tatsache zurückführen, dass die Geburt eines Frühgeborenen in eine vulnerable Phase der Gehirnentwicklung fällt (Bieleninik et al., 2016).

Die Musiktherapie knüpft an die intrauterinen akustischen Erfahrungen an.

Das musiktherapeutische Angebot in der Neonatologie ist eine wichtige Präventionsmaßnahme für die Stabilität und Entwicklung eines frühgeborenen Kindes und kann das bestehende medizinische Behandlungsangebot sinnvoll ergänzen. Die Musik knüpft an die intrauterinen akustischen Erfahrungen an und hilft damit, die hoch technisierte Umgebung einer Intensivstation durch etwas Bekanntes und Menschliches zu bereichern. Sie unterstützt die Wahrnehmungen, die zur strukturellen und funktionellen Entwicklung des Kindes beitragen. Sie fördert zudem die durch die Frühgeburt bedrohte Eltern-Kind-Bindung (Kobus, 2017).

Ab einem Gestationsalter von 26 Wochen kann der menschliche Fötus auditive Reize wahrnehmen (Parikh, 2016). Die Reifung des auditorischen Systems wird von der akustischen Umwelt dieser Kinder beeinflusst und bildet die Grundlage für die spätere Sprachentwicklung sowie das Lernen und die Gedächtnisformation (Haslbeck, 2012; Standley, 2012). Bei Frühgeborenen ist dieser Reifungsprozess gestört. Die Frühgeburt fällt mit einer Phase der schnellen Entwicklung des Gehirns zusammen, wodurch das Gehirn des Säuglings sehr empfindlich und gleichzeitig anfällig für neuroprotektive Eingriffe ist (Parikh, 2016).

 

Musiktherapie im Schlaf bei Frühgeborenen wirksam, von Dr. Susann Kobus. Foto: Stiftung Universitätsmedizin Essen/ Foto: Jürgen Heger
Stiftung Universitätsmedizin Essen/ Foto: Jürgen Heger

 

Seit 2016 wird im Perinatalzentrum des Universitätsklinikums Essen eine kreative, familienzentrierte Musiktherapie angeboten.

Live gespielte Musiktherapie wirkt positiv auf die Vitalparameter.

Musiktherapie dient als Interaktionsmittel, als nonverbale Form der Kommunikation und zur Förderung der individuellen Entwicklung des Kindes (Kobus, 2018). Aus bisherigen Studien geht hervor, dass sich Musiktherapie bei Frühgeborenen stabilisierend und entspannend sowohl auf den allgemeinen Verhaltenszustand als auch auf die Vitalparameter Sauerstoffsättigung und Herzfrequenz auswirkt (Loewy et al. 2013; Arnon et al., 2006; Mirmiran et al., 2003; Maier-Riehle et al., 2000). Diese positiven Effekte lassen sich bereits während einer Intervention verzeichnen (Kehl et al., 2020). Live gespielte Musik und live gesungene Schlaflieder sind im Vergleich zu aufgenommener Musik wirksamer, um die Vitalparameter zu verbessern (Arnon et al., 2006). Zudem konnten eine positive Wirkung auf das Saug- und Trinkverhalten und den allgemeinen Verhaltenszustand der Kinder beobachtet werden (Haslbeck et al., 2017).

Obwohl Neugeborene und Frühgeborene in den ersten Lebenswochen etwa zwei Drittel des Tages mit Schlafen verbringen (Mirmiran et al., 2003), existierte bis jetzt keine Untersuchung, die die Wirkung von Musiktherapie im Schlaf untersuchte.

Um die Auswirkungen der Musiktherapie auf die Vitalparameter im Schlaf zu untersuchen, wurden in dieser Studie 307 Musiktherapiesitzungen von 20 Frühgeborenen, die vor Vollendung der 32. SSW zwischen Oktober 2018 und November 2019 am Universitätsklinikum Essen geboren wurden, analysiert.

Da die Studie ebenfalls die neurologische Entwicklung der Kinder bis zu zwei Jahre nach der Geburt untersucht, waren angeborene Hörstörungen, Hirnblutungen ab Grad III und zerebrale Fehlbildungen Ausschlusskriterien, da diese die neurologische Entwicklung beeinträchtigen könnten (Kobus et al., 2021).

 

Musiktherapie im Schlaf bei Frühgeborenen wirksam, von Dr. Susann Kobus. Foto: Stiftung Universitätsmedizin Essen/ Foto: Susann Kobus
Stiftung Universitätsmedizin Essen/ Foto: Susann Kobus

 

Nach Vollendung der ersten Lebenswoche wurde bei klinisch stabilen Patienten, adaptiert an den klinischen Zustand, zweimal wöchentlich bis zur Entlassung für etwa 20 bis 30 Minuten eine kreative Musiktherapie durchgeführt. Während der Therapien lag das Kind im Inkubator, Wärmebett oder bei einem Elternteil auf der Brust, im Arm oder auf dem Schoß. Die Musiktherapie wurde für jeweils ein Kind individuell durchgeführt und war keine Musikbeschallung des ganzen Intensivraumes. Jede Sitzung bestand aus individuellem und improvisiertem Singen durch die Musiktherapeutin und/oder dem Einsatz des Instruments Sansula. Das improvisierte Singen und Spielen wurden an die Atmung und die Reaktionen der Kinder angepasst (Kobus et al., 2021).

 

Musiktherapie im Schlaf bei Frühgeborenen wirksam, von Dr. Susann Kobus. Foto: Stiftung Universitätsmedizin Essen/ Foto: Jürgen Heger
Stiftung Universitätsmedizin Essen/ Foto: Jürgen Heger

 

Die Sansula besteht aus einem mit Trommelfell bespannten Holzring, auf dem eine kleine Kalimba befestigt ist. Sie bewirkt einen raumfüllenden, langanhaltenden und weichen Klang. Dieser Klang und die Schwingungen werden durch die Klangmembran übertragen. Wird die Sansula mit der Unterseite in die Richtung des Kindes gehalten, kann ein Gefühl des Eingehülltseins in den Klang entstehen, das wiederum Geborgenheit vermitteln kann. Es ermöglicht dem Kind die Umgebungsgeräusche der Station, wie beispielsweise das Piepsen der Monitore, die Gespräche des Personals oder das Schreien anderer Kinder nur noch gefiltert wahrzunehmen. Dieser Zustand ähnelt der Klangwahrnehmung der von außen kommenden Geräusche im Mutterleib. Es entsteht ein schwingender Klangteppich mit weichen, warmen und beruhigenden Klängen, der das Kind umhüllt und schützt.

Die Ergebnisse dieser Studie unterstützen bisherige Erkenntnisse zur kurzzeitigen Stabilisierung der Vitalparameter von Frühgeborenen durch die Musiktherapie und liefern neue Hinweise darauf, dass sich diese auch im Schlaf stabilisieren.

Die Vitalparameter werden auch im Schlaf positiv beeinflusst.

Von 307 musiktherapeutischen Sitzungen wurden 150 (49 %) durchgeführt, bei denen die frühgeborenen Kinder vor, während und nach der Musiktherapie schliefen. Die Herzfrequenz sank bei diesen Kindern um 1,1 Schläge pro Minute, die Atemfrequenz um 8,8 Atemzüge pro Minute und die Sauerstoffsättigung stieg um 1,6 %. Dies zeigt, dass die Musiktherapie auch positive Auswirkungen auf die Vitalfunktionen hat, wenn sie dem Frühgeborenen im Schlaf verabreicht wird (Kobus et al., 2021).

 

Musiktherapie im Schlaf bei Frühgeborenen wirksam, von Dr. Susann Kobus. Abbildung 1 Vitalparameter
Abbildung 1. Vitalparameter der Frühgeborenen im Schlaf vor und nach der Musiktherapie. Blauer leerer Kreis: mittlerer Ausgangswert, rot gefüllter Kreis: mittlerer Posttherapie-Wert

 

Zusammenfassend bestätigt unsere Studie frühere Erkenntnisse zur stabilisierenden Wirkung von Live-Musiktherapie auf die Vitalparameter. Es wurden neue Erkenntnisse darüber gewonnen, dass die Musiktherapie bei Frühgeborenen auch im Schlaf sehr wirksam ist.

Die musiktherapeutische Betreuung ist eine evidenzbasierte therapeutische Methode, die in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit ärztlichen Kollegen durchgeführt wird. Es zeigt sich ein stetig wachsendes Interesse von Medizinern, Therapeuten und anderen Arbeitsfeldern an diesem Fachgebiet. Es fehlen jedoch noch an vielen Kliniken finanzielle Mittel für die Implementierung der Musiktherapie. Die Musiktherapie am Universitätsklinikum Essen kann dank der Stiftung Universitätsmedizin durchgeführt werden und ist seit mittlerweile sechs Jahren ein wichtiger Bestandteil in der Versorgung in der Pädiatrie und Neonatologie.

Copyright Headerfoto: Stiftung Universitätsmedizin Essen/ Foto: Jürgen Heger

Literatur

Arnon, S., Shapsa, A., Forman, L., Regev, R., Bauer, S., Litmanovitz, I., & Dolfin, T. (2006). Live Music Is Beneficial to Preterm Infants in the Neonatal Intensive Care Unit Environment. Birth (Berkeley, Calif.), 01 Jun 2006, 33(2):131-136. doi:10.1111/j.0730-7659.2006.00090.x

Bieleninik, L., Ghetti, C., & Gold, C. (2016). Music Therapy for Preterm Infants and Their Parents: A Meta-analysis. Pediatrics 2016; 138(3):e20160971. doi: 10.1542/peds.2016-0971

Chawanpaiboon, S., Vogel, J. P., Moller, A. B., Lumbiganon, P., Petzold, M., Hogan, D., Landoulsi, S., Jampathong, N., Kongwattanakul, K., Laopaiboon, M., Lewis, C., Rattanakanokchai, S., Teng; D. N., Thinkhamrop, J., Watananirun, K., Zhang, J., Zhou, W., & Gülmezoglu, A. M. (2019). Global, regional, and national estimates of levels of preterm birth in 2014: a systematic review and modelling analysis. The Lancet Global Health 2019 Jan;7(1):e37-e46. doi: 10.1016/S2214-109X(18)30451-0. Epub 2018 Oct 30.

Ghetti, C.M.; Vederhus, B.J.; Gaden, T.S.; Brenner, A.K.; Bieleninik, Ł.; Kvestad, I.; Assmus, J.; & Gold, C. (2021). Longitudinal Study of Music Therapy’s Effectiveness for Premature Infants and Their Caregivers (LongSTEP): Feasibility Study with a Norwegian Cohort. Journal of Music. Therapy 2021, 58, 201–240.

Haslbeck, F. B. (2012). Music therapy for premature infants and their parents: an integrative review. Nordic Journal of Music Therapy 21, 203–226. doi: 10.1080/08098131.2011.648653

Haslbeck F., Nöcker-Ribaupierre M., Zimmer, M.-L., Schrage-Leitner L., & Lodde, V. für den Fachkreis Musiktherapie Neonatologie (2017): Musik von Anfang an. Referenzrahmen zur Anwendung von Musiktherapie in der Neonatologie. Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie. doi: 10.5167/uzh-145733

Kehl, S. M.; La Marca-Ghaemmaghami, P.; Haller, M.; Pichler-Stachl, E.; Bucher, H. U.; Bassler, D.; & Haslbeck, F. B. (2020). Creative Music Therapy with Premature Infants and Their Parents: A Mixed-Method Pilot Study on Parents’ Anxiety, Stress and Depressive Symptoms and Parent–Infant Attachment. International Journal of Environmental Research and  Public Health 2021, 18(1), 265; https://doi.org/10.3390/ijerph18010265

Kobus, S. (2017). Die musiktherapeutische Begleitung Frühgeborener zur Bewältigung des Übergangs von der intrauterinen in die extrauterine Welt. In: Jahrbuch Musiktherapie 2017. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG.

Kobus, S. (2018). Musikalische Begleitung für Frühgeborene und ihre Familien. Reihe Zeitpunkt Musik. Dr. Ludwig Reichert Verlag; Wiesbaden, Germany: 2018.

Kobus, S.; Diezel, M., Dewan, M. V., Huening, B., Dathe, A.-K., Felderhoff-Mueser, U., & Bruns, N. (2021). Music Therapy Is Effective during Sleep in Preterm Infants. International Journal of Environmental Research and Public Health 2021, 18. 8245. https://doi.org/10.3390/ijerph18168245 (hier kann der Artikel als pdf heruntergeladen werden).       

Loewy, J.; Stewart, K.; Dassler, A.-M.; Telsey, A.; & Homel, P. (2013). The Effects of Music Therapy on Vital Signs, Feeding, and Sleep in Premature Infants. Pediatrics 2013, 131, 902–918. doi: 10.1542/peds.2012-1367

Maier-Riehle, B.; & Zwingmann, C. (2000). Effektstaerkevarianten beim Eingruppen-Prae-Post-Design: Eine kritische Betrachtung. Rehabilitation 2000, 39, 189–199. doi: 10.1055/s-2000-12042

Mirmiran, M.; Maas, Y. G. H.; & Ariagno, R. L. (2003). Development of fetal and neonatal sleep and circadian rhythms. Sleep Medicine Reviews 2003, 7, 321–334. doi: 10.1053/smrv.2002.0243

Moon, C. M.; & Fifer, W. P. (2000). Evidence of Transnatal Auditory Learning. Journal of Perinatology 2000, 20, S37–S44. doi: 10.1038/sj.jp.7200448

Parikh, N. A. (2016). Advanced neuroimaging and its role in predicting neurodevelopmental outcomes in very preterm infants. Semin. Perinatology 2016, 40, 530–541. doi: 10.1053/j.semperi.2016.09.005

Standley, J. M. (2012). Music therapy research in the NICU: an updated meta-analysis. Neonatal Network 2012;31:311–316. doi:10.1891/0730-0832.31.5.311

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Susann Kobus

Dr. Susann Kobus hat Diplom-Musikpädagogik an der Hochschule für Musik in Köln und Klinische Musiktherapie (M.A.) an der WWU Münster studiert. Ihre Promotion in Musikdidaktik, Psychologie und Erziehungswissenschaften absolvierte sie ebenfalls an der WWU Münster. Dr. Susann Kobus ist als Musiktherapeutin am Universitätsklinikum Essen und als Dozentin an der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen tätig. Ihre Schwerpunktbereiche liegen in der Neonatologie, Kinderklinik und Frauenklinik. Als Projektleitung Künstlerische Therapien ist sie Gründungsmitglied des 2021 gegründeten Zentrums für Künstlerische Therapien am Universitätsklinikum Essen. www.universitaetsmedizin.de. Copyright Foto: Stiftung Universitätsmedizin Essen/ Foto: Detlef Kittel

Dieser Beitrag hat 5 Kommentare

  1. Tim

    Ein sehr informativer Artikel über einen spannenden Therapieansatz in der Pädiatrie.
    Gerade für frühgeborene Kinder ist die Geräuschkulisse auf einer Neonatalstation sehr anstrengend, da sie all diesen neuen ungewohnten Reizen ungeschützt ausgesetzt sind.
    Ihnen durch die Musiktherapie eine Möglichkeit zur Entspannung zu bieten empfinde ich als sehr sinnvoll und wichtig.

  2. Ender A

    Ein sehr wertvoller Forschungsbeitrag mit viel Herz verpackt und sehr gut zusammengefasst.

  3. Alexandra

    Ein wirklich interessanter Artikel über ein bisher leider zu wenig beachtetes Forschungsfeld!
    Vor allem auch für die Eltern ist es bestimmt sehr entspannend zu spüren, wie gut die Therapie ihren Kindern tut.

  4. Miriam

    Ein sehr spannendes Forschungsthema mit beeindruckenden Wirkungen auf die Kinder, was in diesem Beitrag anschaulich dargestellt wird. Hoffentlich tragen solche positiven Berichte dazu bei, dass in Zukunft noch mehr Familien von dieser Therapiemöglichkeit profitieren können.

  5. Patricia

    Eine sehr beachtenswerte Studie im Bereich der Neonatologie, die ermutigende Ergebnisse zu zusätzlichen Stabilisierungsmöglichkeiten durch musiktherapeutische Behandlungen von Frühgeborenen belegt. Eine bereichernde, innovative Chance interdisziplinär den jungen Patient:innen zu helfen.

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