Musiktherapie in der Psychiatrie während der Pandemie. Ein Einblick von Tobias Kranz. Foto: pxhere

Musiktherapie unter SARS-CoV-2 in der Psychiatrie – ein Einblick

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Die Musiktherapeut.innen des LVR-Klinikverbundes haben sich im “Fachforum Musiktherapie im LVR” zusammengeschlossen. Dieses wurde Ende 1997 im Anschluss an ein Symposium gegründet und hat aktuell 35 Mitglieder. Unser Ziel ist die kontinuierliche Qualitätssicherung der Musiktherapie im LVR, gegenseitige Fortbildung sowie die kontinuierliche Entwicklung und Implementierung der Musiktherapie im Klinikverbund im Sinne des Netzwerkes. Das Fachforum trifft sich zweimal im Jahr zu einem Arbeitstreffen und alle anderthalb Jahre zu drei Tagen gemeinsamer Klausur.

„Der Landschaftsverband Rheinland (LVR) ist ein Verband der kreisfreien Städte und Kreise im Rheinland sowie der StädteRegion Aachen.“ (LVR, 21) Er übernimmt kommunale Aufgaben, die über die Grenzen der Gebietskörperschaften hinausgehen. Zum LVR-Klinikverbund gehören neun psychiatrische Fachkliniken. Bedingt durch die Hygienevorschriften im Zuge der SARS-CoV-2-Pandemie findet der Kontakt innerhalb des Fachforums derzeit digital statt, zuletzt im März dieses Jahres mit 15 Teilnehmer.innen. Thema waren diesmal anlassbezogene Veränderungen und neue Konzepte in der musiktherapeutischen Arbeit.

Trotz aller Einschränkungen sind in allen Phasen der Pandemie musiktherapeutische Angebote weiter durchgeführt worden.

In den Kliniken wurden die Hygienevorschriften in Absprache mit den jeweiligen Gesundheitsämtern – auch zeitlich – unterschiedlich umgesetzt, zusätzlich differenziert innerhalb der jeweiligen Versorgungsbereiche. Neben kurzzeitiger Einstellung aller therapeutischen Angebote in einer Klinik sowie temporären Schließungen von Tageskliniken gehörten dazu auch Umwidmungen von geschützten Stationen in Isolierungsstationen für positiv getestete Patient.innen.  Eine neue Normalität, unter Einhaltung der AHA+L-Regeln, hat sich entwickelt. Die Belegung der Stationen entspricht – mit wenigen Ausnahmen in Tageskliniken und Isolierungsstationen – inzwischen wieder der Zeit vor der Pandemie bei unverändertem Personalschlüssel. Trotz aller Einschränkungen sind in allen Kliniken in allen Phasen der Pandemie musiktherapeutische Angebote kontinuierlich weiter durchgeführt worden. Für viele andere Therapieangebote galt und gilt dies nicht, was den Wert unseres Verfahrens erhöht hat.

Allgemeinpsychiatrie

In der Allgemeinpsychiatrie ist die Arbeit durch Klein- und Kleinstgruppen geprägt. Dies führt zu einer stärker individualisierten Behandlung. Es gibt mehr Zeit, um auf alle einzugehen, was insgesamt unter den Kolleg.innen als wirkliche Verbesserung erlebt wird. Der Widerstand gegenüber dem Verfahren hat signifikant abgenommen, da die Fülle der Therapieangebote gesunken ist und eine große Bereitschaft besteht, sich auf vorhandene Angebote einzulassen.

Vertrauen in das Setting entwickelt sich besser in den verkleinerten Gruppen.

Besonders Menschen mit Angsterkrankungen und Depressionen, aber auch Traumafolgestörungen profitieren von der Verkleinerung der Gruppen. Vertrauen in das Setting und die therapeutische Situation kann sich so besser entwickeln. In der musikalischen Interaktion sind alle hörbarer. Dies hat sich jedoch für z.B. Menschen mit Suchterkrankungen als negativ herausgestellt. Therapeut.innen erleben es, in der Musik eine stärker tragende Rolle zu übernehmen, und die Musik klanglich mehr anzureichern.

Kleinstgruppen werden oft zu Einzeltherapien in der Gruppe, auch auf musikalischer Ebene. Hieraus ergeben sich immer wieder neue Spielformen, welche ihren Schwerpunkt weniger auf die Gruppendynamik und mehr auf individuelle Prozesse legen. Dadurch sind mehrere musikalische Interventionen in einer Einheit häufiger möglich und das musikalische Material kann differenzierter wahrgenommen werden. In den letzten Monaten kommen zunehmend Patient.innen, welche aufgrund der pandemiebedingten Situation in eine Krise geraten sind, soziale Isolierung, Verlust von Tagesstruktur, Arbeitsplatzverlust, gestiegene Anspannung im häuslichen Umfeld, Zunahme von Ängsten vor Erkrankungen und Zwangsstörungen. Eine konträre Tendenz gibt es bei klassisch tagesklinischen und Psychotherapiepatient.innen mit aktuell eher abnehmenden Fallzahlen.

Auf den Akutstationen der Allgemeinpsychiatrie ist die Einhaltung der Hygieneregeln immer wieder eine Herausforderung, und sie erschwert das Arbeiten. Abstand kann nicht durchgehend gewährleistet werden, zudem ist auch der Sinn des Tragens von Masken nicht immer vermittelbar.

„Corona? Das ist nicht gefährlich. Das, was ich habe, ist viel ansteckender!“, sagte sinngemäß eine Patientin mit paranoider Schizophrenie.

In diesem Rahmen sind kaum noch Gruppenangebote möglich, der Schwerpunkt liegt hier noch mehr auf einzeltherapeutischer Behandlung.

Gerontopsychiatrie

Die meisten Veränderungen gibt es in der Gerontopsychiatrie, da das Singen grundsätzlich nicht mehr erlaubt ist. Die Nutzung digitaler Medien nimmt hier deutlich zu. Entwickelte Formen sind das musiktherapeutische Wunschkonzert, ein Musikquiz oder auch das vorherige Sammeln von Lieblingsliedern oder Lieder, die einem nicht mehr aus dem Sinn gehen, auf die in der nächsten Stunde ausführlicher eingegangen wird – Hintergrund, Text, Erzählen der Geschichte.

Aus durch die Pandemie notwendigen Alternativen werden Impulse, neue Formen der musikalischen Begleitung zu entwickeln.

Weitere Alternativen bieten Kleinpercussion, Bodypercussion sowie unterschiedliche rezeptive Angebote. Auf den Akutstationen ist das Singen für viele der Patient.innen Alltag, sei es ein Vor-sich-hinsingen oder auch Mitsingen von Liedern aus dem Radio. Im Aufgreifen dieser Impulse entwickelten sich neue Formen der musikalischen Begleitung: Spielen von Liedern, ohne diese selbst zu Singen, Begleitung durch Summen oder Sprechen des Textes. Musik zeigt sich in diesem Setting unverändert als biographisch und emotional essentiell wichtiger Orientierungsfaktor.

Kolleginnen einer Klinik machten aus der Not eine Tugend. Aus der kurzzeitigen Aussetzung aller therapeutischen Angebote entwickelten und implementierten sie das Konzept der Straßenmusik. Einmal in der Woche bei schönem Wetter gibt es ein offenes Singangebot im Gelände der Klinik. Dies ist inzwischen sehr etabliert, wird über die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit innerhalb der Klinik terminlich gesteuert und ist für viele Patient.innen und Mitarbeitende ein sehnlichst erwarteter Höhepunkt der Woche. Spaziergänge werden drum herum geplant, es entstehen spontane Tänze und auch neue Kontakte.

Forensik

Weil stationsübergreifende Angebote grundsätzlich in allen Versorgungsbereichen eingestellt wurden, führte dies in der Forensik dazu, dass etablierte indikations- oder interessensspezifische Angebote auseinanderfielen; therapeutische Zielsetzungen mussten angepasst werden. Im Gegensatz dazu zeigte sich gerade in diesem Bereich eine größere Bereitschaft, das Angebot kennen zu lernen, auch hier aufgrund verringerter Therapieangebote. Die Aussetzung dieser spezifisch ausgerichteten musiktherapeutischen Angebote sowie auch der Therapien anderer Gewerke führte in einer forensischen Klinik zu einer signifikanten Zunahme von Krisen, woraufhin im Laufe des letzten Jahres die Strategie im Umgang mit der Pandemie geändert wurde. Drastische Reduzierung von Außenkontakten, eine engmaschige Teststrategie, Verlegung positiv Getesteter auf die Isolierstation und auf dieser Grundlage wurden ganze Stationen zu einer Wohngemeinschaft erklärt, übergreifende musiktherapeutische Angebote wie z.B. Bandprojekte konnten wiederaufgenommen werden, was zu Entspannung im Gesamtsystem führte.

Hygieneregeln

Ein alle betreffendes Thema ist die Arbeit mit medizinischen Masken. Neben der physischen Anstrengung gehen mimisch viele Informationen für alle verloren; das Arbeiten mit der Atmosphäre und die Verbalisierung des Geschehens werden dadurch noch wichtiger. Zudem empfiehlt es sich, einen Vorrat an Ersatzmasken im Therapieraum zu haben, da unter anderem durch starkes Weinen die Schutzwirkung herabgesetzt wird.

Arbeit mit Masken ist Normalität für neue Kolleg.innen.

Neue Kolleginnen berichteten, dass sie die musiktherapeutische Arbeit bisher ausschließlich mit Maske kennen – teilweise auch aus vorhergehenden Praktika -, ohne jemals die Stimme als Instrument eingesetzt zu haben. Auch der kollegiale Austausch und das Kennenlernen neuer Kolleg.innen ist sichtlich erschwert. Um den Patient.innen die Möglichkeit zu geben das therapeutische Personal ganz sehen zu können, wurde die Maske kurzzeitig abgenommen – unter Wahrung der Abstände. Eine andere entwickelte Lösung ist eine Fotowand aller Mitarbeitenden, mit und ohne Maske, im Eingangsbereich des Therapietraktes.

Auch gibt es inzwischen Lösungen, in der Einzeltherapie mit Plexiglaswänden zu arbeiten, wodurch in dieser Situation keine Masken getragen werden müssen. Auf Akutstationen – sowohl in der Allgemein- als auch Gerontopsychiatrie – bleibt die kontinuierliche Nutzung selbiger permanentes Thema. Wahnhafte Patient.innen mit verwaschener Sprache können durch das Tragen der Maske noch schlechter zu verstehen sein. Teilweise werden diese auch als Element der Beziehungsgestaltung genutzt in Bezug auf das Austesten von Grenzen.

Der regelhafte Einsatz von Schnelltests wäre eine Lösung für viele Stationen, wo die Maskenpflicht nur schwer einzuhalten ist.

Es gibt aber auch Konzepte, eine Station als einen Haushalt zu begreifen und dadurch die Maskenpflicht für vor allem dementiell erkrankte Menschen aufzuheben. Bei positiven Fällen wird konsequent die gesamte Einheit unter Quarantäne gestellt, therapeutische Angebote sind dann nicht mehr möglich. Ein Weg musiktherapeutisch auf diesen Stationen zu arbeiten, abseits der Quarantäne, wäre der regelhafte Einsatz von Schnelltests.

Masken bieten noch einen anderen Schutz.

Masken bieten aber auch Schutz, in der Adoleszenz, bei sozialer Phobie oder somatischen Problematiken in der unteren Gesichtspartie; in Kombination mit langen Haaren oder Kapuzen ist teilweise kaum etwas vom Gesicht zu sehen. In der Arbeit mit Jugendlichen konnte dabei eine Abnahme der Hemmung, in Kontakt mit dem Medium zu gehen, beobachtet werden.

Bei den Desinfektionsregeln gibt es ein große Bandbreite: Handdesinfektion aller zu Beginn und am Ende der Therapie, klare Zuweisung eines Stuhls pro Patient.in mit nachfolgender Desinfektion, die Umgestaltung der Musiktherapieräume, Ausklammerung von Blasinstrumenten oder nicht mit Schlägeln spielbaren Instrumenten.

Kommunikation

Auch der Austausch mit anderen Berufsgruppen ist deutlich eingeschränkt; informeller Austausch in Pausen oder beim Mittagessen ist nicht mehr möglich, Teamteilnahmen wurden eingeschränkt zur Reduzierung der Kontakte und Personen in einem Raum, Supervisionen fielen aus. Rituale für den Teamzusammenhalt und die Arbeitsatmosphäre können nur noch sehr eingeschränkt stattfinden, auch sind jegliche Formen von Abschied aus dem Mitarbeitendenkreis erschwert. Dadurch kommt es zu Kommunikationsverlusten, Nichtbeachtung von Teamdynamiken und Grüppchenbildungen. Es entsteht in der Arbeit eine Vereinzelung, ein Jeder arbeitet für sich, was sich auch in der bereits beschriebenen Veränderung in der Arbeit mit Gruppen und deren Dynamiken widerspiegelt. Die Idee, hybride Sitzungen durchzuführen, scheitert fast immer an den technischen Voraussetzungen und den hohen Datenschutzrichtlinien (keine Kamera!).

Ein Spagat zwischen Infektionsschutz und Behandlungsbedürftigkeit

Die grundsätzliche und tagtägliche Abwägung aller Mitarbeitenden liegt im Spagat zwischen Infektionsschutz und Behandlungsbedürftigkeit. Nicht jede Situation kann im Vorfeld besprochen und geregelt werden. Die Anforderung für uns alle ist es, Entscheidungen immer wieder situativ und individuell selbst zu treffen und damit auch auf Beziehungsebene Modellfunktion zu übernehmen.

Quelle:
Landschaftsverband Rheinland (2021). Verfügbar unter:
https://www.lvr.de/de/nav_main/derlvr/organisation/partnerderkommunen/organisation_1.jsp [abgerufen am 21.03.2021].

Headerfoto: pxhere

Picture of Tobias Kranz

Tobias Kranz

Tobias Kranz studierte Orchestermusik im Fach Oboe in Berlin (UdK) und Frankfurt (HfMDK), Musiktherapie an der WWU Münster und promoviert seit Herbst 2022 an der HfMT Hamburg im Fach Musiktherapie. Er arbeitet seit mehr als zehn Jahren in der Psychiatrie, derzeit in der LVR Universitätsklinik Essen mit stationären und tagesklinischen Patient:innen, ist Sprecher des Fachforums Musiktherapie im LVR und Mitglied des Berufsständischen Beirats der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft.

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