Bericht Jahrestagung andreas tobias kind Stiftung

Vielfalt fördern – Erkenntnisgewinn der Einzelnen

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Bericht von der Jahrestagung der Andreas Tobias Kind Stiftung

Jedes Jahr im September lädt die andreas tobias kind stiftung zum öffentlichen Stiftungstag nach Hamburg ein. Ziel des Tages ist es, junge Forscherinnen und Forscher zu vernetzen und miteinander ins Gespräch zu bringen zum Themenkreis Musiktherapie und Heilpädagogik – zusammen mit den Gremien der Stiftung, dem Beirat, den Gesellschaftern wie der Geschäftsführung. Der einzelne Mensch stehe mit seinen besonderen Anliegen im Mittelpunkt, es zähle von daher vor allem der Erkenntnisgewinn des Einzelnen: Darauf verwiesen die Geschäftsführerin Britta Johannesson wie auch der Vertreter der Gesellschafter, Prof. Dr. Eckhard Weymann.

Das Motto der Stiftung „Vielfalt fördern“ zeigte sich bei den Präsentationen der drei Themen, die alle aus unterschiedlichen Bereichen kamen.

Oxytocinmessung vor und nach der Musiktherapie

Prof. Dr. Lutz Neugebauer (Witten) stellte das Design einer Studie vor, die er mit der Doktorandin Paula Kristin Busse, dem Sonderpädagogen Götz Kaschubowski und Prof. Dr. Thomas Ostermann (Uni Witten/Herdecke) derzeit unternimmt. Vereinfacht gesagt geht es dabei um die Frage, wie das sogenannte Kuschelhormon Oxytocin nachweisbar ist vor und nach einer Musiktherapie – und das am Beispiel einer Gruppe von Grundschulkindern in einer Schule mit dem „Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung“.

Jahrestagung andreas tobias kind stiftung Lutz Neugebauer
Vortrag Lutz Neugebauer. Foto: andreas tobias kind stiftung

Beziehungsorientierung durch Musiktherapie nachweisbar?

Anlass für diese Studie zum Bindungshormon Oxytocin sei unter anderem die S3-Leitlinie gewesen, die sich mit der Therapie bei Autismus-Spektrum-Störungen beschäftigte und 2021 veröffentlicht wurde. Hier wird die „improvisationsbasierte individuelle Musiktherapie sowie Musiktherapie unter Einbezug der Eltern / Familie“ als nicht wirksam bezeichnet – also mit einer sog. Negativ-Empfehlung belegt. Dagegen seien musikbasierte Interventionen im Bereich von Sprachförderung empfohlen. Ein Widerspruch, der wohl nur musiktherapeutischen Fachleuten auffällt, jedoch nicht den an der Leitlinie beteiligten medizinischen Fachgesellschaften…

Neugebauer und Kolleg:innen kommt es nun darauf an zu zeigen, dass nach und mit Musiktherapie eine Beziehungsorientierung entstehen könne, nachweisbar durch einen Speichelabstrich nach der Therapie. Die ersten Ergebnisse werden jetzt ausgewertet. Man darf gespannt sein, denn die Autor:innen hoffen, dass die Ergebnisse im Positiv-Fall in eine Neufassung der Leitlinie eingehen (müssen). Neugebauer konnte die zunächst vorhandenen Befürchtungen bei den Kindern aufgrund der Erfahrungen mit Corona („schon wieder ein Speicheltest?“) und deren spielerische Überwindung humorvoll darstellen.

Die öffentlichen Stiftungstage in der nun fast 35jährigen Geschichte der Stiftung bieten die Gelegenheit, sich in einem überschaubaren Rahmen mit aktuellen Forschungen zu beschäftigen oder auch mit solchen, die erst am Anfang stehen und in der Planung sind.

Psychotherapie und Geistige Behinderung

Dieses Thema ist spätestens mit Dietmut Niedecken Mitte der achtziger Jahre in den Blickpunkt gerückt. Zuletzt hatte die jährliche Tagung am Freien Musikzentrum in München 2022 auf die defizitäre gesellschaftliche Wahrnehmung und den Mangel in der medizinischen und psychotherapeutischen adäquaten Versorgung für Menschen mit Intelligenzminderung aufmerksam gemacht (siehe Rezension des Tagungsbandes in der aktuellen Ausgabe der Musiktherapeutischen Umschau).

HeiPa – ein Inklusionsprojekt

Dr. Christina Niedermann stellte ein Konzept einer Heilpädagogisch-Psychosomatischen Ambulanz für Menschen mit geistiger Behinderung vor, das derzeit an der Filderklinik in Tübingen geplant ist: „HeiPA – ein Inklusionsprojekt.“  In ihrer Untersuchung (zusammen mit Prof. Dr. Ostermann, Ulrich Elbing, Boris Krause) geht es darum, die Versorgung der heterogenen Gruppe der geistig Behinderten zu verbessern, um auf die jeweils sehr individuelle Situation besser eingehen zu können, denn so Niedermann:

„Sie unterscheiden sich in ihrem sozioemotionalen Entwicklungsstand, ihrer Anpassungsfähigkeit, ihrer Fähigkeit, sich zu konzentrieren.“

Auch der Umgang mit Stress, der Verletzlichkeit, ihren sozialen Bedingungen, ihr Kommunikationsniveau und Wahrnehmungsfähigkeit, die Lern- und Bindungserfahrungen sowie die Mobilität sei sehr verschieden bei Menschen mit Intelligenzminderung. Niedermann konstatiert eine mangelnde Erreichbarkeit von Ambulanzen. Die hohe Abhängigkeit vom pflegerischen Umfeld machten eine adäquate psychotherapeutische Versorgung nahezu unmöglich. Deshalb setzt sie auf eine Kombination von Heilpädagogik mit psychotherapeutischen Angeboten. Denn sowohl die Potentiale der Heilpädagogik als auch der Psychotherapie/Psychosomatik könnten in eine gemeinsame Arbeit münden.

Jahrestagung andreas tobias kind stiftung. Dr. Christina Niedermann mit Poster
Dr. Christina Niedermann. Foto: andreas tobias kind stiftung

Etablierung einer Ambulanz – die wichtigsten Herausforderungen

Zwei Fragen waren für die Referentin leitend: Was sind die wichtigsten Herausforderungen für die Etablierung einer Ambulanz und welche Ressourcen braucht es dazu. Mit der Befragung von Experten aus unterschiedlichen Bereichen kommt Niedermann zu fünf zu beachtenden Kategorien: Qualifikation von Mitarbeiter:innen („Offenheit ohne Berührungsängste“), Supervision und Unterstützung („mehr Diagnostik“), Herstellung von Zugangswegen („Räume und Verfügbarkeit“), strukturelle Einbettung / Finanzierung („Kassensitz“) sowie Netzwerkarbeit („interdisziplinäre Zusammenarbeit“). Durch die gemeinsamen Kommunikationsebenen könne und müsse ein anderes Bewusstsein entstehen zum Beispiel auch durch einen zu entwickelnden Zertifikatskurs „Klinische Heilpädagogik und Psychotherapie“.

Musiktherapie für Menschen mit arabischer Migrationsgeschichte

Migration ist ein lebensveränderndes Ereignis nicht nur in der jeweils individuellen Biografie, sondern auch im transgenerationalen Kontext. Anhand ihres im Psychosozial-Verlag Ende des Jahres 2023 erscheinenden Buches stellten Esra Mutlu, Musiktherapeutin in Erftstadt, und Mahmoud Said, Musiker und Musiktherapeut in Kiel und derzeit in Ägypten, ihre Überlegungen zu einem Konzept der Transkulturalität vor. Sie plädierten für erweiterte Sichtweisen auf die Menschen, die sich für eine Migration entscheiden, denn auf sie kämen Veränderungen, Ungewisses und Herausforderungen zu und sie seien bereit, sich auf etwas Neues einzulassen. Das könne aber auch Ressourcen schaffen und Resilienz fördern.

Jahrestagung andreas tobias kind stiftung. Folie Said Mutlu
Folie Said/Mutlu. Foto: andreas tobias kind stiftung

Was ist unter Kultursensibilität zu verstehen?

Was verstehen nun die Autor:innen unter dem Begriff Kultursensibilität?  Welche Voraussetzungen braucht es dazu für die musiktherapeutische Praxis? Zunächst sei eine transkulturelle Bildung für Therapeut:innen unerlässlich – unabhängig von der Klientel. Es brauche ein Bewusstwerden der eigenen kulturellen Prägung: „Kultursensibilität meint den wachsamen Umgang mit eigenen und von außen vorgegebenen Denk- und Bewertungsmustern hinsichtlich kultureller Phänomene“. Außerdem sei für einen kultursensiblen Umgang in der Therapie eine diskriminierungssensible Haltung wichtig. Und das erfordere nun eine „Kulturelle Emanzipation“ durch eine umfassende Selbstreflexion der eigenen Kulturzugehörigkeit, der jeweiligen Bewertungsmuster, der eigenen musikalischen und musiktherapeutischen Prägungen.

Jahrestagung andreas tobias kind stiftung Geiger Mahmoud Said
Geiger Mahmoud Said. Foto: andreas tobias kind stiftung

 

Ein Teil des Buches beschäftigt sich auch mit arabischer Musik, die der Geiger Mahmoud Said selbst an einigen Beispielen demonstrierte, sowie mit dem angeblichen Musikverbot im Islam. Mahmoud Said beschäftigt sich aktuell mit der Implementierung von musiktherapeutischen Angeboten im arabischen Kulturraum.

Das persönliche und atmosphärisch offene Konzept der Kind-Stiftung wird auch bei den öffentlichen Stiftungstagen spürbar. Es ist der Stiftung zu wünschen, dass sich der gesellschaftliche Nutzen, der durch und mit den unterstützten Projekten entsteht, weitervermittelt und künftig mehr Aufmerksamkeit erhält.

 

Mehr zur Kind-Stiftung, zu Antragsanforderungen und den Möglichkeiten der finanziellen Unterstützung:

www.andreas-tobias-kind-stiftung.de.

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Volker Bernius

Volker Bernius, Studium der Theologie, Musik, Psychologie. Seit 1979 Redaktionsmitglied der Musiktherapeutischen Umschau, ab 1986 Chefredakteur, Beisitzer im Vorstand der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft: Von 1981 bis 2015 Bildungs-, Kultur- und Wissenschaftsredakteur Hessischer Rundfunk, Mitgründer und Fachbeirat der Stiftung Zuhören, Journalist, Autor, Herausgeber, Dozent.

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