Jahrestag der Andreas Tobias Kind Stiftung im September 2024. Foto: Volker Bernius

Andreas Tobias Kind Stiftung: Nachhaltig wirken, Neues entwickeln

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Volker Bernius im Gespräch mit Prof. Lutz Neugebauer

Prof. Dr. Lutz Neugebauer ist Leiter des Nordoff-Robbins-Zentrums für Musiktherapie in Witten, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Andreas Tobias Kind Stiftung in Hamburg. Ende September 2024 fand der jährliche Stiftungstag statt.

Zunächst: Was waren denn die besonderen Präsentationen?

Es gab beeindruckende Abschlussberichte von geförderten Projekten. Es berichtete Katherina Papadopulos von ihrer Teilnahme am Musiktherapie-Weltkongress 2023 in Vancouver (Kanada). Der Reisekostenzuschuss, den die Stiftung vergeben hatte, war damit verbunden, die Ergebnisse dieses Kongresses und ihre Eindrücke möglichst vielfältig zu verbreiten, zum Beispiel in der Studierendenschaft (siehe dazu den Blogbeitrag von Milena Manthey und Katherina Papadopulos vom 31. August 2023). Ein großartiges Beispiel von guter Vernetzung.

Vernetzungsprojekte sind wesentlich für die Arbeit der Stiftung, erklärt Lutz Neugebauer, weil Themen durch die Verbreitung eine Teil-Öffentlichkeit finden können. Das sei auch der Sinn des Stiftungstages, bei dem sich Verantwortliche der Stiftung, aus der Gesellschafterversammlung, aus dem Wissenschaftlichen Beirat, aus Alumni der Stiftung und weiteren Interessierten treffen. Und es kommen Bewerberinnen und Bewerber, die sich mit ihren Projekten vorstellen; auch solche, die Neues vorhaben. Oder es wird über bereits abgeschlossene Vorhaben berichtet. Zweimal im Jahr treffen sich die Stiftungsgremien. Bewerbungsschluss ist immer Ende April. Dann werden die Bewerbungen und die Neuanträge besprochen und es wird entschieden, wer sich beim Stiftungstag im September vorstellen soll. Das Grundkonzept der Stiftung ist es, nur einzelne Personen zu fördern.
Jahrestag der Andreas Tobias Kind Stiftung im September 2024. Foto: Volker Bernius
Jahrestag der Andreas Tobias Kind Stiftung im September 2024. Foto: Volker Bernius
Neugebauer freut sich, dass der Stiftungstag vor allem zum Austausch einlädt und gerade Antragstellende durch Nachfragen auf Möglichkeiten hingewiesen werden, die sie selbst noch nicht gesehen haben. So können sie neue Perspektiven in ihr Projekt mit einbeziehen (zum genaueren Vorgehen der Stiftung siehe auch: Die Andreas Tobias Kind Stiftung – zuständig für Menschen und ihre Ideen. Im Gespräch mit Britta Johannesson und Brigida Loring, Musiktherapeutische Umschau 04-24, S 431 – 433).

Beim Stiftungstag 2023 wurde im letzten Jahr ein Vorhaben vorgestellt, dass sich mit musiktherapeutischen Angeboten in der Ukraine beschäftigt. Nun stand ein Bericht beim diesjährigen Stiftungstag 2024 auf dem Programm – worum ging es, und was hat sich da getan?

Das war ein sehr eindrucksvolles und auch bewegendes Projekt über eine musiktherapeutische Arbeitsgruppe in der Ukraine. Zwei Musiktherapeutinnen aus der Ukraine, Tetiana Chernous und Marina Slot, haben ihre Arbeit vorgestellt, zusammen mit Gulsanam Sadik, die in Deutschland lebt und die Koordination übernimmt (siehe dazu Gulsanam Sadiks Blogbeitrag “Hilfsprojekte für Musiktherapeut:innen in der Ukraine” vom 25. Januar 2024).

Die Ukrainerinnen Tetiana Chernous, Marina Slot, und Gulsanam Sadik stellen ihr Trommel-Power-Projekt vor.
Die Ukrainerinnen Tetiana Chernous, Marina Slot, und Gulsanam Sadik stellen ihr Trommel-Power-Projekt vor.

 

Konkret geht es um den Zugang zu dem Projekt “Trommel-Power” von Andreas Wölfl und Kolleg:innen, das in einigen Schulen in Deutschland und Österreich bereits praktiziert wird. Die Kolleginnen aus der Ukraine haben gesagt: ‘Das können wir gut auf unsere Mitmenschen in ihrer jetzigen Lebenssituation übertragen.’

Danach wurden Arbeitsgruppen gebildet und Kolleg:innen mit dem Konzept “DrumPower” vertraut gemacht. Die Kosten für die Schulungen wurden von der Kind-Stiftung übernommen. Auch die Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft hatte im letzten Jahr das Projekt unterstützt und war zusammen mit der Organisatorin verantwortlich für den Transport von mehreren Trommeln, die das Musikhaus Thomann gespendet hatte. In der Ukraine, erzählt Neugebauer weiter, gehe es bei „DrumPower nicht nur unmittelbar um Kriegstraumatisierungen, sondern um ein weiteres Thema, das viele in der Ukraine beschäftige und beeinflusst.

Wir wissen davon zu wenig. Der von Russland geführte Krieg hat auch innerhalb der Ukraine zu einer massiven Migrationsbewegung geführt durch die Fluchtbewegung aus den Kriegsgebieten von Ost nach West. Und in den Gebieten, die noch nicht direkt vom Krieg betroffen sind, gibt es dadurch – nach Schilderungen der beiden Referentinnen – enorme soziale Spannungen.

Wie kann man sich das vorstellen? Funktioniert „Drum-Power“ genauso wie in München? Hier sind ja in Schulen Kinder und Jugendliche angesprochen.

TrommelPower ist offenbar wirklich gut übertragbar, weil die Zielsetzung ist, in Schulen aggressionspräventiv zu arbeiten. Und das machen die Kolleginnen in der Ukraine auch. Sie sagen, dass sie in den Schulen ein hohes und unbearbeitetes Aggressionspotenzial innerhalb der Schülerschaft vorfinden. Zum Teil ist das Aggressionspotenzial den Schülern gar nicht bewusst, weil die Belastungssituationen insgesamt so enorm sind. Es müssen die Erfahrungen des Krieges bewältigt werden und das in einem neuen Umfeld – im Grunde ein doppelter Verlust, auch ein Verlust des Alltags, der Freunde, der Sicherheit im schulischen Kontext.

Es ist also nichts so, wie es vorher war. Und wir haben die Bilder im Kopf von Schulklassen, die in den U-Bahnen Schulunterricht machen, wenn es zu einem Bomben- oder Luftalarm kommt…

… und es war für die Kolleginnen, die aus der Ukraine zum Stiftungstag angereist sind, nicht ganz einfach. Sie sagten: ‘Wir wissen, dass wir in ein friedliches Land kommen und trotzdem, wenn ein Flugzeug den Hamburger Flughafen anfliegt, dann haben wir erst mal eine traumatische Flashback-Situation, die uns an die Situation erinnert, in der wir eigentlich leben.’

Mit sehr einfachen Mitteln, ergänzt Lutz Neugebauer, könne die Kind-Stiftung etwas „ganz Wichtiges und Tolles unterstützen“; sichtbar sei das an den eindrucksvollen Ergebnissen. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten werde die Stiftung dieses Projekt auch weiter fördern, davon ist Neugebauer überzeugt. Es sei angedacht, einen Spendenaufruf zusammen mit Kooperationspartnern zu organisieren, um eine Verbundenheit mit dem Projekt entwickeln zu helfen. Die Stiftung werde dann dafür sorgen, dass die Mittel direkt an die Menschen weitergegeben werden können.

TrommelPower ist ein Projekt, das sich direkt an Kinder und Jugendliche wendet. Welche musiktherapeutischen Erfahrungen machen die Kolleginnen aus der Ukraine noch, gibt es noch weiteren Bedarf und wenn ja, wo?

Die Kolleginnen haben auch von der Rehabilitation von Kriegsverletzten berichtet. Der Videoclip, der vorgeführt wurde, hat mich an die Anfänge der Musiktherapie nach dem ersten Weltkrieg erinnert, die ich in historischen Bilddokumenten gesehen habe. Historisch gesehen hat Musiktherapie in der Betreuung von Bombshell-Victims ihren Anfang genommen. Traumatisierte Soldaten aus den Massenbombardierungen von Verdun wurden behandelt und die Symptome und Auswirkungen filmisch dokumentiert. In Deutschland waren das die sogenannten “Kriegszitterer”.

In den Dokumentationen konnte man eben sehen – das wissen wir heute auch aus anderen Beschreibungen – dass Musik ungemein gut tut und beruhigend auf diese Menschen wirkte; beruhigend und ressourcenorientiert. Und deshalb haben mich die Beispiele aus der Ukraine sehr betroffen gemacht, weil sie – aus heutiger Sicht bedauerlicherweise – an diese Geschichte erinnern.

Lassen Sie uns noch zu einem anderen Punkt kommen. Seit über 35 Jahren gibt es die Kind-Stiftung und in dieser Zeit sind schon sehr viele Personen und Projekte gefördert worden. Die Frage ist ja immer auch, wie nachhaltig sind solche Förderungen, bzw. was lösen sie aus, wie werden sie weitergeführt, wo werden Entwicklungen angestoßen.

Die Kind-Stiftung ist ja eine Familienstiftung, die sich aufgrund der persönlichen Betroffenheit der Familie zwei Förderziele gesteckt hat: Die musiktherapeutische Forschung und die heilpädagogische Forschung und Ausbildung zu befördern – mit dem besonderen Ziel junge Menschen zu fördern, die in der Forschung neu sind.“

Jahrestag der Andreas Tobias Kind Stiftung im September 2024
Jahrestag der Andreas Tobias Kind Stiftung im September 2024
Nach Neugebauer geht es nicht um Riesenprojekte, sondern darum, Menschen zu unterstützen, die sich für Wissenschaft interessieren, die aus der Praxis vielleicht Fragestellungen entwickelt haben, die sie einmal beleuchten wollen und die dazu Freistellungen brauchen. Praxisprojekte ohne wissenschaftlichen Anspruch, betont der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats, könnten aber aufgrund der Satzung nicht unterstützt werden, denn es gehe hier um Wissenschaft, Forschung und Ausbildung. Und auch darum, dass mit der Förderung etwas wirklich Neues geschehe, die Stiftung stelle sich auf ihre Ziele mit den aktuellen Fragestellungen immer wieder neu ein.

Faszinierenderweise zeichnen sich für mich innerhalb einer Antragstellung oft Trends ab; etwas, das im gesellschaftlichen oder berufspolitischen Bereich noch nicht so präsent vorhanden ist. Die Stiftung ist da wie ein Seismograph für künftige auch gesellschaftliche Themen, die dann vorher dort schon auftauchen und idealerweise erkannt werden.

Neugebauer erklärt das am Thema Demenz. Kolleg:innen, die in diesem Bereich seit längerem arbeiteten, hätten Anträge auf Unterstützung gestellt, um ihre Praxis aufarbeiten und reflektieren zu können. Mit dem Ziel, die Entwicklung in der Musiktherapie in diesem Praxisfeld umfassender begründen zu können. Und das lange bevor das Thema überall in der Gesellschaft angekommen sei. Diese frühen musiktherapeutischen Erkenntnisse bei Menschen mit Demenz würden heute vielfach auch von Menschen zur Begründung genutzt, die andere musikorientierte Interventionen bei Menschen mit Demenz anbieten. „Musiktherapie ist hier – als kleines Fach – , sehr innovativ vorangegangen.“

Sie sagen, es geht um das kritische Reflektieren der eigenen Praxis mit einer bestimmten Fragestellung. David Aldridge, Ihr Mentor, hat das mal so beschrieben, “the reflective practitioner”, also der selbstreflektierende Praktiker, der mit einer bestimmten Fragestellung seine eigene Praxis auch mal anschaut. Welche Beispiele gibt es da noch?

Ein Projekt, das die Kind-Stiftung mit unterstützt hat, ist in der Musiktherapie sehr wichtig geworden: es handelt sich um das EBQ-Instrument, das Prof. Karin Schumacher und Kolleginnen entwickelt haben zur Beurteilung der Beziehungsqualität innerhalb der Musiktherapie. Das finde ich ein ganz typisches Projekt für die Stiftung: jemand hat in der Praxis etwas entwickelt, wollte das gerne wissenschaftlich begründen, um es fundiert an die nächsten Generationen weiterzugeben.

Die EBQ-Skalen – daraus hat sich ja im Nachhinein ganz viel entwickelt. Und jede und jeder, der sich mit Musiktherapie heute befasst, kommt im Grunde nicht an diesem Thema vorbei. Etliche Kolleginnen und Kollegen haben diese Skalen weiter transformiert in verschiedene Praxisfelder hinein…

… ja, es gibt heute etliche Weiterentwicklungen für bestimmte Patientengruppen. Das ist für mich so eine Art Leuchtturmprojekt der Kind-Stiftung im Bereich Musiktherapie. Ein absolut nachhaltiges Projekt, denn es gibt entsprechende Weiterbildungsmöglichkeiten mit Zertifikat für diejenigen, die die Skalen anwenden wollen. Erst kürzlich erschien dazu ein Beitrag in der Musiktherapeutischen Umschau mit dem Fokus auf Sprache. Wie Sie sagen, wenn man in der Musiktherapie unterwegs ist, kommt man am EBQ gar nicht vorbei: Es ist aus der Praxis heraus entstanden und wirkt über die Forschung wieder in die Praxis zurück – ein besonderes gelungenes Projekt der Stiftung.

Und ich finde es gut, so ein Projekt dann entdeckt zu haben oder mit zu fördern, mit dazu beigetragen zu haben, dass sich das so entwickeln konnte.

Wie sieht nun die Zukunft der Stiftung aus? Sehen Sie Themen, von denen Sie denken, die könnten interessant werden für die Zukunft?

Das klingt jetzt vielleicht etwas merkwürdig, wenn die Zukunft angesprochen ist, aber ein Thema, das nach meiner Auffassung aus den Antragstellungen sichtbar künftig wichtig werden könnte, ist die Aufarbeitung der Geschichte der Musiktherapie in Deutschland. Das sollten wir in der musiktherapeutischen Landschaft in den Blick nehmen. Diese Fragestellung ist aktuell und auch deshalb wichtig, weil viele Erkenntnisse auch für heute daraus gewonnen werden können, und weil es generell bedeutsam ist, aus der Geschichte zu lernen. Und jetzt sind noch die Personen aus den früheren Generationen da, die persönlich berichten können, und deren Erfahrungen und Erfindungen bisher nicht aufgearbeitet wurden. Wir sitzen auf Erfahrungsschätzen, die wir nicht bergen können, weil die eben in anderen Stiftungen nicht finanzierbar sind. Und da ist die Kind-Stiftung immer ein Anlaufpunkt.“

Und darüber hinaus, so versichert Lutz Neugebauer, gebe es einen kontinuierlichen Verjüngungsprozess, bei dem der Generationenwechsel in der Andreas Tobias Kind-Stiftung immer auch neu gestaltet wird.

Vielen Dank für das Gespräch, Prof. Neugebauer!

Links

Andreas Tobias Kind Stiftung – andreas-tobias-kind-stiftung.de

Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft (DMTG) – www.musiktherapie.de

World Federation of Music Therapy (WFMT) – www.wfmt.info

Canadian Association of Music Therapists (CAMT) – www.musictherapy.ca

Musiktherapeutische Umschau | Vandenhoeck & Ruprecht Verlage – www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/journal-musiktherapeutische-umschau

Headerfoto: Andreas Tobias Kind dirigiert jedes Jahr am Ende der Stiftungstagung den Abschlusssong, am Klavier begleitet von  Lutz Neugebauer. Alle Fotos: Volker Bernius

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Volker Bernius

Volker Bernius, Studium der Theologie, Musik, Psychologie. Seit 1980 Redakteur (ehrenamtlich) Musiktherapeutische Umschau, 1986-2015 Chefredakteur, 1981-2015 Redakteur Hessischer Rundfunk, Bereiche Kultur, Bildung und Wissen. Vorstand Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft (DMTG), Journalist, Autor und Herausgeber.

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