Ein Interview von Bettina Eichmanns
Soeben ist der aktuelle Band der Musiktherapeutischen Umschau (4/2024) erschienen. Von Jasmin Andergassen finden wir darin den Standpunktartikel “Weibliche Identität und Sexualität – Anregungen für die musiktherapeutische Praxis”. Bettina Eichmanns spricht hier im Interview mit der Autor:in.
Frau Andergassen, wie kamen Sie auf das Thema weiblicher Identität im Zusammenhang mit Sexualität? Gab es Momente oder Aspekte in der klinischen Praxis, die Ihr Interesse geweckt haben?
Der Artikel gründet auf meiner Masterarbeit, die im Rahmen meines Musiktherapiestudiums entstanden ist. Damals arbeitete ich als Musiktherapeutin im schulischen Kontext mit Kindern und Jugendlichen. Das Thema hatte ich daher nicht aus der klinischen Praxis heraus gewählt, es war eher ein persönliches Interesse. Bei meiner ersten Recherche erfuhr ich, dass es keine Literatur gab. Und das, obwohl die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Sexualität als zentralen Bestandteil des Wohlbefindens definiert! Dieser Umstand festigte mein Vorhaben, das Thema für meine Masterarbeit zu wählen. Bei den ersten Gesprächen mit Dozent:innen und den Studierenden traf ich auf einige starke Reaktionen, von skeptischen, warnenden Rückmeldungen bis zu sehr unterstützenden.
Was mich am Thema noch überzeugt war, dass es alle Menschen angeht, und dies das ganze Leben lang. Wahrscheinlich hat es auch deshalb starke Reaktionen ausgelöst, weil niemand unbetroffen ist von dem Thema. Im Nachhinein habe ich viel positives Feedback zu meiner Arbeit bekommen, die Nominierung für den Eschenpreis und das Interesse der MU-Redaktion gaben mir weitere Bestätigung.
… Und jetzt hat die MU-Redaktion Ihren Artikel auch für dieses Interview vorgeschlagen.
Genau. Nach einem sehr produktiven redaktionellen Dialog haben wir meinen Beitrag als Standpunktartikel strukturiert. Das entspricht meiner Arbeit und meinem Anliegen sehr gut.
Welche historischen, wissenschaftlichen, philosophischen oder künstlerischen Bezüge haben sich für Sie als besonders ertragreich erwiesen?
Das Thema ist sehr breit gefasst, und nachdem es im Rahmen der musiktherapeutischen Literatur nichts gab, worauf ich mich beziehen konnte, musste ich schnell meine Recherchen zunächst ausdehnen, dann aber wieder konzentrieren und damit auch einschränken. Die angrenzenden Disziplinen, bei denen ich fündig wurde, war zunächst die Körperpsychotherapie, die konkrete Ansätze zum Umgang mit Sexualität im therapeutischen Kontext lieferte, insbesondere der Beitrag „Arbeit mit Sexualität in der Psychotherapie“ von Notburga Fischer und Robert Fischer (Einführung in die Integrative Körperpsychotherapie IBP (Integrative Body Psychotherapy), herausgegeben von Kaul E. & Fischer, M., 2016) Ein weiterer hilfreicher Bereich war die sexuelle Bildung. In dem 2018 erschienenen Buch „Lustvoll körperwärts. Körperorientierte Methoden für die Sexuelle Bildung von Frauen“ von Julia Sparmann entdeckte ich praktische Übungen, die im Artikel beschrieben sind.
Wie ist es mit den wichtigen Lebensabschnitten vom Kleinkindalter bis zur Pubertät? Haben Sie das Thema auch in diesem Zusammenhang untersucht?
Nein. Ich habe oft in meiner Arbeit schreiben müssen: dieser Aspekt würde den Rahmen sprengen. Deshalb habe ich diesen Bereich ausgeklammert und mich von Anfang an auf das Erwachsenenalter konzentriert.
Ihre Masterarbeit ist also zugleich eine Pionierarbeit?
Ja, das könnte man so sagen, weil es noch nichts zum Thema Sexualität in der Musiktherapie gab. Ich stieß im Arbeitsprozess immer wieder an Grenzen, und es gab auch Momente der Fast-Resignation. Aber die Resonanz, die ich kontinuierlich bekam, ermutigte mich, weiterzumachen.
Warum stellt Ihrer Meinung nach für Frauen «die Entwicklung ihrer Identität und die Aneignung der eigenen Lust und Sexualität» eine so große Herausforderung dar, wie Sie es im Artikel schildern?
Die Herausforderung für Frauen in Bezug auf die weibliche Identität und Sexualität ergibt sich aus jahrtausendelangen soziokulturellen und gesellschaftlichen Strukturen patriarchalisch geprägter Systeme. Diese sind geprägt durch Leibfeindlichkeit und sind gefangen im Widerspruch zwischen Abwertung und Idealisierung des weiblichen Körpers. In einem Kontext von weniger akuter oder offensichtlicher Unterdrückung, mit einer großen Freiheit, die in den letzten Jahrzehnten für die Frauen erkämpft wurden, ist es schwerer geworden, Dinge zu benennen oder zu kritisieren. Schnell bekommen Frauen Reaktionen wie „ihr könnt euch alles nehmen, was ihr wollt, aber bitte nicht zu hysterisch, bitte nicht zu anstrengend werden“.
Das Buch „Untenrum frei“ von Margarete Stokowski (erschienen beim Rowohlt-Verlag 2016) diente oft als Grundlage, dieses Spannungsfeld zwischen den von den Frauenbewegungen der letzten Jahre schon erreichten, und den noch zu erreichenden Freiheiten, greifen und beschreiben zu können.
Wie beurteilen Sie aktuelle, teils sehr kontrovers diskutierte Problematiken, die die MeToo-Kampagne in den Blickpunkt gebracht hat – neben Missbrauch auch häusliche Gewalt oder die hohe Zahl an Frauenmorden durch Partner, Ehemänner, Ex-freunde?
Diese Frage führt sehr weit und sprengt den Rahmen des Themas. Ich kann vielleicht eine Brücke schlagen, die in wenigen Worten die unterschiedliche Ausgangslage von Frauen und Männern erfasst. Eine Umfrage zum Online-Dating ergab: bei Männern ist die größte Angst vor dem ersten Date, dass die Frau dick ist. Bei Frauen ist die größte Angst, dass der Mann ein Mörder oder Vergewaltiger ist.
Was für Lösungsansätze können Sie beschreiben für das Problem, dass «in unserer Gesellschaft ein öffentliches Bild von sexuell aktiven Frauen fehle, welches nichts mit Schande zu tun hat»? Wie würden Sie sich ein solches «öffentliches Bild» vorstellen, und was wären andere wirksame Maßnahmen, um die genannten Herausforderungen anzugehen?
Es sollte eine Sensibilisierung stattfinden, auch in der Musiktherapie: hin zu einem erweiterten Verständnis des Themas (weibliche) Sexualität und Identität, das weniger von einer individuellen als vielmehr von einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive geprägt ist. Die Inbesitznahme der eigenen Körperlichkeit und eine wohlwollende Beziehung – auch Mut – zur eigenen Lust wie auch zur Unlust trägt dazu bei, dass wir einen wichtigen Punkt verstehen: nicht „richtig“ sein zu müssen. Lange war die Lust tabu, heute ist es oft die Unlust. Hingegen sollten wir lernen, auf unsere eigene Stimme zu hören.
Keine wissenschaftliche Untersuchung kann erklären, warum ein Körper so fühlt wie er fühlt. Die Musiktherapie kann diesen Prozessen der Sprachlosigkeit gegenüber Sexualität eine neue Stimme verleihen. Und helfen, die Antwort auf die Frage nach den eigenen Grenzen und Möglichkeiten zu erfühlen.
Vorbilder sind bei solchen Prozessen der Neufindung ganz entscheidend, aber die eigentliche Antwort ist, dass es kein allgemein gültiges Vorbild gibt. Es sollte vorgelebt werden, was alles möglich ist, wenn es in Freiheit geschieht (körperlich und geistig) – also „unten rum“ und „oben rum“. Es ist wichtig, sich der eigenen Prägung bewusst zu sein, um unabhängig zu werden.
Ich denke es ist auch wichtig, sich bewusst zu machen, wie männlich dominiert wir aufgewachsen sind, zum Beispiel mit Hoheiten wie Gott, Herr, Vater. Wie wäre es, anstelle davon Bilder einer Göttin oder Mutter Erde zu haben und weibliche körperliche Prozesse wie Menstruation, Schwangerschaft, Geburt, Menopause mit einem positiven Wert zu besetzen.
Wo können sich Musiktherapeut:innen zu den von Ihnen erläuterten, teils tabubesetzten Themen wie zum Beispiel das erotischer Gefühle gegenüber Klient:innen in einem gesichertem Kontext ausdrücken und austauschen?
Das Thema eignet sich eher für Einzelsettings (ob Supervision, Selbsterfahrung oder Therapie). In Gruppen ist es meist schwierig, darauf einzugehen. Bei der im Artikel erwähnten Umfrage unter Schweizer Musiktherapeut:innen, die einen sehr regen Rücklauf hatte, ergab sich, dass Sexualität in Bezug auf die Musiktherapie nicht Teil der Ausbildungscurricula ist. Nur in Einzelsettings wird sie von Teilnehmer:innen selbst angesprochen.
Ich denke, Musiktherapeut:innen sollten Gefäße, Begriffe anbieten, damit von Anfang an klar ist: das Thema ist willkommen. Denn ich merke, wenn ich es in der Therapie anbiete, wird sehr danach gegriffen.
Sie erwähnen die (für den Schutz von Klient:innen sehr wichtige) Diskussion um sexuellen Missbrauch in den 1990er Jahren als einen Grund für die reduzierte Bearbeitung von Sexualität in der Psychotherapie? Können Sie das genauer erklären? Spielt hier die Angst vor Missbrauchsvorwürfen eine Rolle, oder eher die Tabuisierung des Themas generell?
Die Diskussion und die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen haben die Tabuisierung und Angst vor der Thematik verstärkt. Wenn die therapeutische Rolle ausschließlich auf Distanz fokussiert, kippt dies meiner Meinung nach in ein Ungleichgewicht. Ich denke es braucht eine Sensibilisierung dafür, dass neben der therapeutischen Distanz auch die therapeutische Nähe bewusst gestaltet werden muss.
Sie beschreiben zwei von Sparmann vorgestellte, körperorientierte Methoden für die Bildung der weiblichen Sexualität. Klang und Bewegung als eng miteinander verbundene Ausdrucksformen sollten prädestiniert sein für die Thematisierung von (nicht nur weiblicher) Sexualität in einer spielerischen Dimension, die den hemmenden Einfluss von Schamgefühlen und Tabuisierung abschwächt. Wie lässt sich das Potential der Musiktherapie für die Thematik weiblicher Sexualität in der Zukunft gestalten – im Rahmen der klinischen Arbeit, in den Ausbildungen, in der Supervision?
Die Musiktherapie kann und sollte als Faktor in allen Bereichen so eingesetzt werden, wie sie gedacht ist: da wo Sprache limitiert, kommen Musik und Klang ins Spiel und bieten diesen Themen eine eigene Realität. Sie bringen Gefühle in eine Form. Manchmal wird das Thema Sexualität als zu intim empfunden – aber warum sollte es etwas geben in der Musiktherapie, das zu intim ist? Das Attribut intim ist doch positiv. Musiktherapie kann hier sehr viel anbieten. Sie kann eine Sprache sein, die uns erlaubt, intime und diffuse Dinge wie Lust, Begehren und Wünsche zu benennen.
Frau Andergassen, vielen Dank für das interessante Gespräch!
Literaturangaben
Andergassen, Jasmin (2024). Weibliche Identität und Sexualität – Anregungen für die musiktherapeutische Praxis. Musiktherapeutische Umschau 46(4), 400-407.
Fischer, Notburga & Fischer, Robert (2016). Arbeit mit Sexualität in der Psychotherapie. In: Kaul, E. & Fischer, M. (Hrsg.). Einführung in die Integrative Körperpsychotherapie IBP (Integrative Body Psychotherapy), S. 245-270. Bern: Hogrefe.
Sparmann, Julia (2018). Lustvoll körperwärts. Körperorientierte Methoden für die Sexuelle Bildung von Frauen. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Stokowski, Margarete (2016). Untenrum frei. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.