Musiktherapie und Coronakrise

Wie erleben Musiktherapeuten die Covid 19-Pandemie?
Vier Antworten 5

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Leben und Arbeit sind seit Monaten verändert und verändern sich weiter.
Die Corona-Pandemie beschäftigt uns alle immer wieder neu: In der Musiktherapie sind die Erfahrungen sehr weit gespannt: Von Weiterarbeit und Akzeptanz in Kliniken bis zu Reduktion und Abbruch von ambulanter Arbeit oder Honorartätigkeiten in Einrichtungen. Nicht nur Improvisation ist gefragt, sondern auch Geduld, Achtsamkeit, Mut, Durchhaltevermögen und Phantasie.

Wir haben seit Mai 2020 Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten jeweils die gleichen vier Fragen gestellt. Entstanden sind aktuelle Bestandsaufnahmen der letzten Monate. Sie können Anregungen und Hinweise geben für den Umgang mit den neuen Gegebenheiten und Problemen, mit denen wir alle so oder ähnlich konfrontiert sind. Die persönlichen Einblicke dürften auch Ausblicke auf eine sich vielleicht verändernde – erneuernde? – Musiktherapie sein. Jede.r ist eingeladen, sich zu beteiligen…

In diesem fünften Teil der Umfrage antworten: Agnes Brazsil, Dani Koppe, Dirk Kreuzer und Julia Tostmann.

Vier Fragen an ... Agnes Brazsil, Münster

Musiktherapie Blog Vier Fragen an Agnes Brazsil
01 Was hat sich in Ihrem Leben seit Corona verändert?

Es ist eine inzwischen schwierige Fragestellung, weil die Corona-Pandemie langsam soweit gekommen ist, dass man das „Corona-Gefühl” fast als Normalität erlebt. Ich empfinde es so, als ob man ein gut bekanntes Musikstück langsamer abspielen würde und dadurch andere Einzelheiten des Liedes erkennen würde, wie je zuvor. Und wenn man wieder die Musik im originalen Tempo abspielt, ist es schwierig nachzuvollziehen, wie man es früher gehört hat.

Mein Lebensstil hat sich verändert. Es ist alles etwas ruhiger geworden und ich fokussiere mich viel mehr auf das Wesentliche: Beziehungen, Freunde, Familie, „Ich-Zeiten” usw. Ich erlebe persönlich eine dimensionale Veränderung auf die private und berufliche Ebene. Als ob vieles intensiver geworden wäre als davor. Als ich meine Familie zum ersten Mal nach 7,5 Monaten gesehen habe, das war einfach unfassbar schön! Ebenso merke ich in dem beruflichen Alltag ein erhöhtes Bedürfnis nach Musik hören, singen und gemeinschaftlichen musikalischen Momenten seitens der Patienten in der Musiktherapie.

02 Was hat sich in Ihrer beruflichen Situation verändert?

Als teilweise Festangestellte einer Klinik hat sich mein Alltag strukturell wenig verändert, leiblich umso mehr: in dem Sinne habe ich die phasenweise entstehende Veränderungen mit den Patienten gemeinsam erlebt und ihre Resonanzen (Ängste, Sorgen, Beklemmungsgefühle, usw.) auf der eigenen Haut spüren können. Diese Themen empfinde ich deutlich präsenter bei Patienten mit chronischen Schmerzen als davor in der Musiktherapie. Als freiberufliche Musiktherapeutin in Senioren- und Pflegeheimen hat sich das Leben deutlich verändert. Einzeltherapien sind so gut wie gar nicht möglich. Ich kann nur draußen bei gutem Wetter Musiktherapie mit den Senioren gestalten, was je nach Pflegeeinrichtung bautechnisch unterschiedlich möglich ist. Meiner Wahrnehmung nach hat sich die Musiktherapie als eine große Bedeutsamkeit und Tagesstruktur für meine Patienten entwickelt, da sich in den Seniorenheimen leider wenig Veränderung ergeben hat seit der COVID-Pandemie.

03 Wie sehen Sie die Chancen für Musiktherapie nach Corona?

Es ist schwierig einzuschätzen, wie sich die Chancen für Musiktherapie nach so einer großen wirtschaftlichen Krise entwickeln. Ich kann nur hoffen, dass der Fokus für Sozio- und Psychotherapien in der persönlichen und institutionellen Ebene eine größere Bedeutsamkeit bekommt.

04 Was wünschen Sie sich für die Musiktherapie in Deutschland für die Zukunft?

Ich schließe mich der Meinung von Holger Selig (Blogbeitrag ‘Vier Antworten Teil 4’) an und würde mir auch ein Berufsgesetz für Musiktherapie und Abrechnungsmöglichkeiten in Deutschland wünschen, beziehungsweise klare Richtlinien der musiktherapeutischen Arbeit für jegliche Musikherapierichtungen. Weiterhin finde ich es nach wie vor wichtig, beruflich Präsenz zu zeigen. So könnte hoffentlich die exotische Seite der Musiktherapie eventuell in der Zukunft weniger werden und mehr Selbstverständlichkeit gewinnen, was genau eine musiktherapeutische Arbeit bedeutet.

Vier Fragen an... Dani Koppe, Chemnitz

Musiktherapie Blog Vier Fragen an Dani Koppe

Es geht mir gut.

Mein Körper und meine Seele haben sich endlich Gehör verschaffen können.

Drei Monate ohne meine „lebenswichtige Arbeit“ haben zur Verbesserung meiner Lebensqualität beigetragen.

Ich bin zur Ruhe gekommen und weiß, dass ich mir Zeit nehmen darf und dass ich dieses eine Leben bewusster gestalten möchte.

02 Was hat sich in Ihrer beruflichen Situation verändert?

Vieles hat sich verändert. Ich arbeite kürzer.

Änderungen der Rahmenbedingungen in meiner Arbeit als Musiktherapeutin habe ich zu meinen Gunsten umgestalten können.

Es fällt mir immer noch ein bisschen schwer, mich selbst zu disziplinieren und nicht wieder in alte Verhaltensmuster zu fallen. Aber ich bin auf einem guten Weg.

03 Wie sehen Sie die Chancen für Musiktherapie nach Corona?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass Musiktherapie plötzlich einen anderen Stellwert einnehmen könnte, als vor der Corona- Zeit.

Während meiner unfreiwilligen Auszeit hatte ich oft per Mail oder Telefon, Kontakte zu meinen Klient.innen. Ihnen fehlten die Musiktherapie und meine Person.

Die Chancen sind, denke ich, genau so gut oder weniger gut wie vor der Pandemie.

Sie sind immer abhängig von der Person und der Qualität der musiktherapeutischen Arbeit.

04 Was wünschen Sie sich für die Musiktherapie in Deutschland für die Zukunft?

Vielleicht, dass die unterschiedlichen musiktherapeutischen Richtungen, Ausbildungen und Verbände mehr zueinander finden, dass konstruktive Auseinandersetzung normal wird und die gegenseitige Anerkennung selbstverständlich.

Vier Fragen an... Dirk Kreuzer, Meersburg

Musiktherapie Blog Vier Fragen an Dirk Kreuzer

Seit meiner Kurzarbeit ab Mitte März ist das aktive Musikmachen wieder mehr in den Fokus gerückt. Ich spiele seitdem jeden Tag Gitarre und übe mit großem Enthusiasmus. Das erinnert mich sehr an die Zeit, als ich noch studierte. Auch lese ich seither viel mehr und beschäftige mich mit dem aktuellen Weltgeschehen und philosophischen Themen wie Macht, Gewalt, Wirklichkeit und Vergänglichkeit.

02 Was hat sich in Ihrer beruflichen Situation verändert?

Durch die Corona Pandemie hat sich einiges verändert. Da mein befristeter Arbeitsvertrag nicht mehr verlängert worden ist, bin ich seit dem 1.07.2020 arbeitslos. Froh bin ich, dass ich mich vor vier Jahren dazu entschlossen habe, meine Freiberuflichkeit zum Teil „an den Nagel zu hängen“. Freiberuflich ist es auch schon vor Corona sehr schwierig geworden. Durch die Einführung des Begriffes der Scheinselbständigkeit verhindert der Rentenversicherer eine Freiberuflichkeit in Kliniken. Es gibt keine Klinik, die mein 1997 gestartetes Modell der Mobilen Musiktherapie noch nutzen dürfte. Zurzeit bin ich durch das Arbeitslosengeld finanziell abgesichert. Ich suche nach neuen Perspektiven und bin noch relativ entspannt dabei.

03 Wie sehen Sie die Chancen für Musiktherapie nach Corona?

Ich hoffe sehr, dass die Lage sich wieder „normalisiert“. Der Bedarf an Musiktherapie wäre ja da. Allerdings sehe ich auch eine Tendenz in der psychosomatischen REHA, Kreativtherapie fallen zu lassen und diese durch Ergotherapie zu ersetzen. Das bereitet mir große Sorge! (Ich habe das leider schon am eigenen Leib erlebt.)

04 Was wünschen Sie sich für die Musiktherapie in Deutschland für die Zukunft?

Eine berufspolitische Anerkennung und eine wie auch immer geartete Kassenzulassung.

vier fragen an... Julia Tostmann, Bad Malente

Musiktherapie Blog Vier Fragen an Julia Tostmann

Vieles, was sich verändert hat, ist mittlerweile, wohl dank funktionierender Abwehrprozesse, relativ normal geworden für mich. Die Maske steckt wie Handy und Schlüssel in der Tasche, herzliche Blicke statt Umarmungen, Corona-Test und Quarantäne mal im näheren, mal im ferneren Umfeld. Die Angst vor Krankheit und dem zweitem großen Lock-Down ist besser regulierbar als noch vor Monaten, wenn auch neuerdings wieder immer mehr präsent mit Blick auf die täglich steigenden Fallzahlen.

02 Was hat sich in Ihrer beruflichen Situation verändert?

Für mich hat sich dank der Systemrelevanz meiner Klinik (Psychosomatik) und der Behandlungsrelevanz von Musiktherapie in der Klinik (eine der Hauptgruppentherapien) bisher zum Glück nicht viel verändert. In den ersten Monaten hatte ich sogar mehr zu tun, um die Patienten mit Abstand in unveränderlichen Raumgrößen alle gut versorgen zu können. Dafür war ich sehr dankbar, denn ich habe es als Privileg empfunden, morgens als eine der Wenigen wie immer zur Arbeit fahren zu können und zumindest dort eine Menge bekannter Menschen live zu treffen, die mal ungläubig fassungslos, mal ängstlich betrübt oder auch erleichternd humorvoll die Situation teilten und Schritt für Schritt mit Patienten und Kollegen mitzuerleben, wie das, was uns noch vor ein paar Monaten ängstigte, mittlerweile zum scheinbar einigermaßen kontrollierbaren Alltag geworden ist. Ich erinnere mich noch gut an die menschenleeren Straßen, in der Stille sich treffende Blicke der Wenigen, die unterwegs waren. Arbeit bekam für mich eine neue Qualität – die von sicherheitsstiftender Normalität inmitten von turbulenten, unsicheren und ängstigenden Zeiten.

03 Wie sehen Sie die Chancen für Musiktherapie nach Corona?

Ich denke, es könnte dort eine Chance sein, wo Musiktherapie lange vermisst wurde oder immer noch nicht stattfinden kann, dass die dadurch entstandenen Lücken auffallen und damit Potenziale bzw. Unabdingbarkeiten spürbar werden.

04 Was wünschen Sie sich für die Musiktherapie in Deutschland für die Zukunft?

Noch mehr zertifizierte Musiktherapeutinnen und noch mehr Forschung auf dem Weg zu einer gerechten Bezahlung, zum Berufsgesetz und damit zur Stärkung der Position gegenüber Politik und Kostenträgern.

Wir bedanken uns bei den Autor.innen für die Antworten. Auch nach diesem fünften Teil setzen wir die Reihe gerne weiter fort: Wenn Sie, liebe Musiktherapeut.innen, auch die Fragen beantworten möchten, schicken Sie diese bitte an blog@musiktherapie.de.

Die vorherigen Folgen der Serie:

Vier Antworten von Elka Aurora, Silke Kammer, Yuka Kikat und Dr. Johannes Unterberger (7. Mai 2020), Vier Antworten 2 von Inga Auch-Johannes, Sandrine Doepner, Lena Eliaß und Dorothea Käding (8. Juni 2020), sowie Vier Antworten 3 von Susanne Heinze, Sandra Schneider-Homberger, Verena Lodde, Gustav von Blanckenburg und Gaby Flossmann (6. Juli 2020). Vier Antworten 4 von Holger Selig, Ursula Senn, Britta Sperling, Stephanie Scaleppi, und Daniela Goebel (11. August 2020).

Autor.innenfotos: die Rechte liegen bei den Autor.innen.

Headerfoto: pxhere

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Volker Bernius

Volker Bernius, Studium der Theologie, Musik, Psychologie. Seit 1979 Redaktionsmitglied der Musiktherapeutischen Umschau, ab 1986 Chefredakteur, Beisitzer im Vorstand der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft: Von 1981 bis 2015 Bildungs-, Kultur- und Wissenschaftsredakteur Hessischer Rundfunk, Mitgründer und Fachbeirat der Stiftung Zuhören, Journalist, Autor, Herausgeber, Dozent.

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