Wall E (Pixar Studios, 2016) - Filmposter. Copyright: Filmstarts.

Filmstelle-Gastbeitrag:
Musik gegen das Vergessen bei Disney und Pixar

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Ich bin bestimmt nicht allein damit, dass ich Animationsfilme genauso gerne schaue wie meine Kinder – schließlich sind wir auch selbst mit einigen Klassikern aufgewachsen. Während der letzten 15 Jahre konnte ich mich nach Herzenslust an Disney-, Pixar- und Dreamworks-Meisterwerken sattsehen. Inzwischen sind meine cartoon-Partner im Teenager-Alter, und ich müsste wieder allein ins Kino gehen, wenn Frozen 3 oder Cars 4 in die Säle kommen sollten.
Nachdem die “Zwei von der Filmstelle“, meine Kolleginnen Ulrike Haffa-Schmidt und Christine Back, hier im Blog regelmäßig über Filme aus musiktherapeutischer Sicht ihre Gedanken und Beobachtungen teilen, habe ich ein lang gehegtes Vorhaben in Angriff genommen, mein musiktherapeutisches Erleben einiger Szenen aus aktuellen Zeichentrickfilmen zur Diskussion zu stellen. Dann habe ich kurz mit Ulli und Christine Rücksprache gehalten – und so entstand dieser Gastbeitrag!

Exkurs: Filmmusik als audio-visuelles entrainment

Der Einsatz von Musik, die mit den Bewegungen der Filmfiguren hundertprozentig synchron agiert, war bei Disney seit jeher ein zentrales Thema. Inspiriert vom Musical, ist die Musik eine fast kontinuierliche Präsenz in seinen Filmen – man könnte sagen, quasi die Heldin oder der Held schlechthin. Mir würde spontan der Begriff eines audiovisuellen entrainments dazu einfallen. Es handelt sich nicht nur um eine rhythmische Synchronisierung von Filmmusik und Filmgeschehen. Es ist vielmehr eine Mitnahme des Betrachters in die emotionale Welt der handelnden, tanzenden, singenden Akteure. Ob in 2D oder computeranimiert in 3D, ob Prinzessin, Tierfigur oder seit „Cars“ ein Auto – die Figuren werden durch die Musik plastisch, nachvollziehbar und transparent.

Eine Art Attunement – mit (Zeichen)-Trick

Gerade die präzise Synchronisation zwischen Musik und den rhythmischen wie auch den emotionalen Bewegungen der gezeichneten Darsteller ist ein Qualitätsmerkmal, das Walt Disney von Anfang an technisch perfektioniert hat. Diese effektvolle Gestaltung von Filmmusik bekam sogar einen eigenen Namen: „Mickey Mousing“, in Anlehnung an den ersten Animationsfilm von 1928 mit Mickey Mouse pfeifend am Steuer als „Steamboat Willie“, der erste Zeichtrickfilm mit Ton.

Es folgen die bis heute bekannten und beliebten abendfüllenden Filme Schneewittchen (1935), Pinocchio (1940), Fantasia (1940) – ein Ballettabend in Animationsform mit ausschließlich klassischer Musik, dann Dumbo (1941) und Bambi (1942). Pinocchio gewann als erster Disneyfilm die Oscars für „Bester Song“ (Wenn ein Stern), und „Beste Musik“. Es sind nicht zufällig die Jahre des Musical-Booms am Broadway.

Vom Film zum großen Hit

Viele Hits sind aus den Disneyfilmen hervorgegangen. Besonders die Mut-mach oder Aufbruchs-Songs wie „Probiers mal mit Gemütlichkeit“ (unerreicht, das Dschungelbuch von 1967), „Ich hab ihn im Traum gesehen“ (Cinderella, 1987) oder „Ein Mensch zu sein“ aus Arielle die Meerjungfrau“, der Welterfolg, mit dem 1997 die sogenannte Disney-Renaissance den Konzern aus einer schweren Finanzkrise rettete, sind zeitlos.

Auch in den Werken der Disney-Tochter Pixar finden sich einige solcher Songs und Filmmusiken, die Welthits wurden und mit den höchsten Preisen der Filmbranche ausgezeichnet wurden: allen voran „Let It Go“ von Alan Menken (Frozen, 2014), und der Titelsong „You’ve Got A Friend in Me“ der Toy Story-Filme, komponiert und gesunden von dem großartigen Singer-Songwriter Randy Newman.

Erst die Musik, dann die Zeichnung

Musik- und filmwissenschaftliche Arbeiten drücken in ihren Titeln bereits die Bewunderung für die Disney-Filmmusiken aus: „Zeichentrickmusik“ (Britta Heiligenthal, Nomos-Verlag 2016), „Klangbilder“ (Irene Kletschke über „Fantasia“, 2011), gar „Animierte Musik“ (Saskia Jaszoltowski, 2013), sind nur einige Beispiele. Walt Disney erklärte selbst: erst kommt die Musik, dann choreografieren die Zeichner punkt für punkt die bewegten Bilder dazu.

Musik gegen das vergessen

Einige Szenen, und ein Film mit Sequel, haben mich in den letzten Jahren als Musiktherapeutin besonders intensiv in die Welt der Animationsfilme eintauchen lassen. Warum genau? Hier der Versuch einer Erklärung – mit Videolinks zu den Filmausschnitten, die bestimmt für sich sprechen.

Coco

  • Produziert von Pixar Animation Studios
  • Erscheinungsjahr: 2017
  • Dauer: 105 Minuten
  • Regie: Lee Unkrich
  • Musik: Michael Giacchino

Die ungewöhnliche Reise des mexikanischen Jungen Miguel in ein so farbenprächtiges Totenreich, wie es vielleicht nur Pixar realisieren konnte, hat weltweit das Kinopublikum bewegt. In dieses lebendig wimmelnde Jenseits gelangt er am Tag der Toten (Día de los Muertos), als er sich auf die Suche nach dem Traum von einem Leben als Berufsmusiker macht. Bald lernt er neben seinen verstorbenen Familienmitgliedern Héctor kennen – der sich als Vater seiner Urgroßmutter Coco entpuppt. Eben jener Héctor wurde aus der familiären Erinnerung verbannt, weil sie der Meinung sind, dass er seine Frau Imelda und seine Tochter Coco für die Musik im Stich gelassen habe, als Mama Coco noch ein kleines Mädchen war.

Miguel und Zuschauer erfahren jedoch im Jenseits die Wahrheit: Héctor wurde bei einer Konzertreise von seinem neidischen Kompagnon, und Interpreten seiner Kompositionen, Victor de la Cruz aus Gier nach Ruhm und Erfolg vergiftet. Um im Reich der Toten seine Existenz weiterführen, und einmal im Jahr, am Tag der Toten, über die leuchtende Blumenbrücke zu seinen Hinterbliebenen zurückkehren zu können, muss sich wenigstens eine Person im Diesseits an den Ururgroßvater Héctor erinnern und sein Foto auf dem Familienaltar bewahren.

Miguel gelingt die Rückkehr aus dem Jenseits nach Hause zu seiner Familie, wo er seiner Urgroßmutter das Foto ihres verstorbenen Vaters Héctor zeigt. Sie reagiert zunächst nicht, und Miguel verzweifelt – dann baut er spontan auf die Kraft der Musik:

Miguel greift zur Gitarre, seine herbeigeeilte Familie spürt die Wichtigkeit des Moments und lässt ihn gewähren. Er spielt Mama Coco ein Gutenachtlied vor, das Héctor für seine Tochter komponiert und ihr häufig vorgesunden hatte, bevor er verschwand. Das Lied bewirkt genau das, was der Songtitel „Recuerdame“ (spanisch) oder „Remember me“ (englisches Original) beschreibt: Durch die vertrauten Klänge bahnt sich bei Mama Coco gerade noch rechtzeitig die Erinnerung an den Vater ihren Weg, um ihn in letzter Minute vor der endgültigen Verbannung aus dem Jenseits zu retten.

Wall-E

  • Produziert von Pixar Animation Studios und Walt Disney Company
  • Erscheinungsjahr: 2008
  • Dauer: 98 Minuten
  • Regie: Andrew Stanton
  • Musik: Thomas Newman
  • “Down To Earth” von Peter Gabriel mit dem Soweto Gospel Choir

Vielleicht etwas weniger bekannt als Coco ist der bezaubernde Science-Fiction-Film Wall-E (Pixar und WDC, 2008). Der kleine, solarstrombetriebene Müllsammelroboter (Waste Allocation Load Lifter – Earth class) verbringt im Jahr 2805 als letzter Bewohner eines komplett vermüllten und verseuchten, seit 700 Jahren menschenleeren Planeten Erde seine Tage mit der Aufgabe, für die er entwickelt wurde: täglich den Müll zu kleinen Kuben zu pressen und diese zu stapeln. Später stellt sich heraus, dass das Technologie-Unternehmen Buy n Large (BNL) die Menschen, die es sich leisten konnten, ein Leben auf Raumschiffen wie der Axion verkauft hat, wodurch sie sich vor dem sicheren Tod auf der Erde bewahren konnten.

Der fleißige Wall-E hat wie ein einfallsreicher Trödelhändler diverse für ihn bemerkenswerte Gegenstände aus dem Müll gezogen, um seinen Wohncontainer damit charmant und voll automatisiert einzurichten. Ein Pflänzchen, das er mitsamt Wurzeln und Erde in einem Schuh aufbewahrt, wird dabei eine Schlüsselfunktion haben. Sein Herzens-Gerät ist ein alter Videorecorder, seine Leidenschaft das einzige ihm erhalten gebliebene Video: Hello Dolly“, in der Verfilmung von 1969 des gleichnamigen Musicals (Regie: Gene Kelly, in den Hauptrollen Barbara Streisand und Walther Matthau). Besonders das Lied „It Only Takes A Moment“ hat es ihm angetan. Mehrmals hören wir daraus die Strophe:

And that is all that love’s about
And we’ll recall when time runs out
That it only took a moment
To be loved a whole life long

Eines Tages bekommt Wall-E plötzlich explosive Gesellschaft von Eve, einem Roboter, der von der Axiom auf die Erde gebracht wird, um eine Pflanze – irgendeine Pflanze – zu finden, mit der die Erde wieder begrünt und bewohnt werden kann. Wall-E ist fasziniert von der Besucherin.

Wall-E und Eve (die Buchstaben-Verwandtschaft der Namen dürfte kein Zufall sein…) genügen ihre Namen, um zu kommunizieren. Sie tauschen während des ganzen Films nur wenige Worte aus, beide haben keine Münder – sie lächeln mit ihren Augen, mit Gestik, mit Kopfhaltungen.

Die fast wortlose Romanze zwischen dem 700 Jahre alten Wall-E und der modernen Eve entwickelt sich zu einer Schlacht im Weltraum auf der Axiom, von der Eve und Wall-E – letzterer stark beschädigt – schließlich zurückkehren, in Begleitung aller menschlichen Überlebenden.

Aber Wall-E ist nur noch eine Hülle aus Metall. Er erkennt Eve nicht mehr. Eve gelingt es nicht, mit ihm in Kontakt zu kommen. Sie versucht es mit den Gegenständen aus seinem Container, zeigt ihm das Musical-Video – bis sie ihm schließlich ganz leise die Melodie von “It Only Takes A Moment” vorsummt. Dazu berührt sie seine „Hand“ mit ihrer, sie verschränken ihre Finger. So erweckt sie Wall-Es Erinnerungen zum Leben, seine Person kehrt in die Roboter-Hülle zurück.

Ich finde, dass diese Szene eine der berührendsten und intensivsten Filmmomente aus allen mir bekannten Trickfilmen ist! Wer den Film nicht gesehen hat, und auch wer ihn kennt, ist herzlich eingeladen, sich den kurzen Ausschnitt hier (noch einmal) anschauen. Als Musiktherapeutin erkenne ich vertrautes in dieser Szene wieder, auch wenn es sich „nur“ um einen Film handelt.

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Findet Dorie

  • Produziert von Pixar Animation Studios
  • Erscheinungsjahr: 2016
  • Dauer: 103 Minuten
  • Regie: Andrew Stanton
  • Musik: Thomas Newman

Findet Dorie ist das Sequel von Findet Nemo (2003). Die Paletten-Doktorfisch-Dame Dorie ist im Film von 2003 ein ungewöhnlicher Sidekick (Helfer, Kompagnon) des Clownfischs Marlin, der den gesamten Ozean durchquert, um seinen Sohn Nemo zu finden. Denn Dorie leidet an Verlust des Kurzzeitgedächtnisses (Shortterm Memory Loss). Sie vergisst alles nach wenigen Momenten. Im Sequel dürfen wir Dories Geschichte kennenlernen: wir erfahren jetzt, wie die Eltern ihr wichtige Überlebenskünste beibringen wollen. Sie soll nach Hause finden über Muschel-reihen, sich einige einfache Sätze merken. Vor allem diesen:

“Ich leide an Verlust des Kurzzeitgedächtnisses, können Sie mir helfen?”

Und wie tun sie das? Mit Reimen und Melodien. Wenn Dorie verborgene Erinnerungen heraufbeschwört, dann durch rhythmisches Singen oder Rezitieren. Eine bekannte Melodie – ein Helfer in der Not.

Sie erinnert sich besonders in der Freundschaft mit Marlin an Dinge, und überrascht sich selbst. In Abwesenheit von faktischen Erinnerungen entwickelt Dorie ungewöhnliche Fähigkeiten der Problemlösung, und sie erhält sich vor allem eins: einen unzerstörbaren Optimismus. Am Ende von Findet Nemo sagt sie zu Marlin:

“Bitte, kann ich bei Dir bleiben – mit Dir erinnere ich mich, weil ich die Dinge fühle.”

Als Marlin und Nemo dann in Findet Dorie auf der Suche nach ihr sind, fragen sie sich immer wieder: was würde Dorie tun? Es ist, als wäre Dories Denken durch die fehlenden episodischen Erinnerungen freier, unbelasteter – und dadurch kreativer.

Dorie ist durch ihr Wesen, ihre aus der Not geborenen Talente und ihre Offenheit etwas besonderes innerhalb der Welt der Trickfilm-Figuren. In beiden Filmen kann man mit musiktherapeutischer Brille eine so quirlige und mutige Bewältigung des potentiell lebensbedrohenden Verlustes des Erinnerungsvermögens entdecken, wie sie nur die Meister der Zeichentrickkunst auf die Leinwand bringen können – teils utopisch, aber mit einem mitreißenden, und meine ich wahren Kern. Dorie wird ganz bestimmt eins bleiben: unvergesslich.

Sehr einfühlsam lässt der Soundtrack die Sängerin Sia zum Abschluss eben dieses Lied singen: „Unforgettable“ von Nat King Cole (1951). Mindestens einmal mit Kopfhörer anhören und genießen wird empfohlen.

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Bettina Eichmanns

Musiktherapeutin (DMTG, AIM), Musik­wissen­schaft­lerin, zertifizierte Seminarleiterin für Benenzon-Musiktherapie, freie Dozentin. Klinischer und Forschungs-Schwerpunkt: Einzel- und Gruppentherapie in den Bereichen Wachkoma und Gerontopsychiatrie. Musiktherapeutin in der Abteilung für Personen im Wachkoma der Fondazione Don Gnocchi Mailand.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Gmehling beate

    Sehr spannender und emotionaler Beitrag. Vielen dank

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