In der Medizin, insbesondere in der Psychosomatik, spricht man manchmal von einem „Krankheitsgewinn“. Ein vielleicht etwas verstörender Begriff, womit verschiedene Vorteile gemeint sind, die durch eine Erkrankung entstehen können, wie z.B. Schonung, Zuwendung usw.
Der österreichische Schriftsteller Arno Geiger führt uns mit dem Buch Der alte König in seinem Exil über seinen demenzkranken Vater noch eine weitere Form von „Krankheitsgewinn“ vor Augen, nämlich die Freude über eine neue Begegnung mit seinem Vater. So ist Der alte König in seinem Exil im Grunde nicht einfach ein Buch über Demenz, sondern vielmehr ein Buch über einen Vater und dessen Leben.
„Eine Liebeserklärung an den Vater, vor allem aber ein großes Stück Literatur“, so die FAZ.
In dieser Liebeserklärung gelingt es dem Autor, uns Leser:innen auf eine überaus schöne und liebenswerte Fähigkeit vieler Menschen mit Demenz aufmerksam zu machen, nämlich die Dinge beim Namen zu nennen.
„Papa, weißt du überhaupt wer ich bin?“ Die Frage machte ihn verlegen, er wandte sich zu Katharina und sagte scherzend mit einer Handbewegung in meine Richtung: „Als ob das so interessant wäre.“
Obgleich es durchaus viele witzige Stellen in diesem Buch gibt, so kommt es dennoch nicht wie beschönigender Slapstick einer dramatischen Krankheit daher. Dramatisch ist auch die Jugend des August Geiger, Jahrgang 1926, der 18jährig in den Krieg an die Ostfront geschickt wurde, wo er dann in russischer Gefangenschaft schwer und lebensbedrohlich an Ruhr erkrankte. Von Bratislava ging er schließlich zu Fuß zurück nach Hause in sein Dorf Wolfurt. Dieses Erlebnis und die Sehnsucht nach Zuhause hat den Mann nachhaltig geprägt und wird nun auch in der Demenz zu einem wichtigen Thema. So möchte der Vater zuweilen nach Hause gehen, wo er in Wirklichkeit schon ist, nur erkennt er sein eigenes Zuhause nicht mehr.
Nicht alles ist verloren
Ich glaube, dass dieser Roman vielen Menschen Mut machen kann. Menschen, die als Angehörige mit dem Phänomen Demenz konfrontiert sind, können sich und ihre Liebsten vielleicht an manchen Stellen wiedererkennen und feststellen, dass – wenn durch diese Krankheit auch vieles verloren geht – die Persönlichkeit mit ihren Licht- und Schattenseiten doch irgendwie erhalten bleibt.
Und wir, die wir mit Demenz Betroffenen arbeiten, können erleben, welche Bedeutung unsere tägliche Arbeit für die Angehörigen haben kann. Nachdem die Familie den Vater jahrelang zuhause betreut hat, kommen sie irgendwann an einen Punkt der Überforderung und Erschöpfung und entscheiden sich für ein Pflegeheim. Als Arno Geiger erkennt, dass sein Vater dort in guten Händen ist, beschreibt er seine Erleichterung auf anrührende Weise.
„Was für eine Befreiung, wieder Lebensfreude zu spüren. In der Früh aufzuwachen und zu wissen, dass ich in der Lage sein werde, den Tag zu genießen – das war eine elementare Veränderung“.
Sich in Liedern zu Hause fühlen
Von Musiktherapie ist in dem Buch zwar nicht direkt die Rede, aber die ganze Familie entdeckt und erfährt das gemeinsame Singen als eine Ressource, die allen guttut. Der Vater erkennt sein selbst gebautes Haus nicht mehr als sein Zuhause, doch in den alten Volksliedern scheint er sich zuhause zu fühlen. Singen ist etwas Emotionales, ein Zuhause außerhalb der greifbaren Welt. So Arno Geiger, der Schriftsteller. Nun, dieser Satz hätte auch von einer Musiktherapeutin sein können, oder nicht?
Es ist ein Buch, das einen beim Lesen oftmals zum Lachen bringt, aber auch zum Nachdenken und wer nah am Wasser gebaut ist, wird durch die Anmut und Liebenswürdigkeit, die Arno Geigers Sprache hier innewohnt, vielleicht auch zu Tränen gerührt.
Arno Geiger. Der alte König in seinem Exil. Carl Hanser Verlag München, 2011. 192 Seiten. 22,00 € (D).
Abbildung Umschlag-Grafik: Hanser-Verlag.
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