Filmrezension Musikfilme aus musiktherapeutischer Sicht vonHaffa-Schmidt Back

Die zwei von der Filmstelle:
“Tár”

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Wenn die beiden Musiktherapeutinnen Christine Back und Ulrike Haffa-Schmidt in Nürnberg ins Kino gehen, setzen sie ab und zu ihre Musiktherapeutenbrille auf. Dabei entdecken sie immer wieder interessante Berührungspunkte zu ihrem Berufsfeld.

Tár

  • Kinostart: 2. März 2023
  • Dauer: 158 Minuten
  • Regie: Todd Field
  • Darsteller: Cate Blanchett, Nina Hoss, Noemie Merlant
  • Genre: Drama
  • Produktionsland: USA

Großartige Schauspielerinnen und keine Minute langweilig

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Die Handlung: Lydia Tár (Cate Blanchett Oscar verdächtig) ist eine ehrgeizige und charismatische Dirigentin, die es bis an die Spitze der Berliner Philharmoniker geschafft hat. Sie hat eine Autobiografie geschrieben, komponiert, unterrichtet in Meisterklassen, bereitet eine CD-Aufnahme Mahlers 5. Symphonie vor und ist eine gefragte Interviewpartnerin. Privat ist sie mit der 1. Geigerin (Nina Hoss) des Orchesters verheiratet, gemeinsam haben sie eine Adoptivtochter.

Im Verlauf des Filmes zeigt sich immer deutlicher und erschreckender eine andere Seite ihrer Persönlichkeit: ungutes Vermischen von Privat- und Berufsleben, und ein verletzender Umgang mit Menschen in ihrem beruflichen Umfeld. Sie wird von Alpträumen geplagt, ist zwanghaft und geräuschempfindlich, intrigant und berechnend.

Die Geschichte nimmt Fahrt auf, als während der Orchesterproben immer mehr Spannungen zu Tage treten, Tár ganz eindeutig eine Musikerin bevorzugt und so den Zusammenhalt des Orchesters schwächt. Massive Vorwürfe über Machtmissbrauch, kompromittierende Videos und gelöschte Chatverläufe machen die Situation unerträglich… mehr sei an dieser Stelle nicht verraten.

Was den Film für mich besonders macht: er nimmt nahezu ausschließlich die Perspektive Társ ein. Alle anderen Rollen scheinen nur um sie herum zu agieren, ohne wirklich spürbar oder interessant zu werden. Vieles bleibt im Unklaren, mit dem Effekt, dass, obwohl Tár immer unsympathischer wird, wir trotzdem noch mitfühlen, wenn sie mehr und mehr abstürzt.

Hatte dieser Film eine Szene, die ich im weitesten Sinne als musiktherapeutisch erlebt habe? Nein, es ist der Film über eine exzentrische Dirigentin im Spannungsfeld von Orchester, Musikindustrie und Privatleben.

Aber: mir kommen Studierende aus der musiktherapeutischen Lehrtherapie in den Sinn, Musikerinnen und Musiker, die sich ganz bewusst entschieden haben, nicht mehr künstlerisch tätig sein zu wollen, sondern die Musiktherapeut*innen werden möchten. In der Bearbeitung ihrer musikalischen Biografie werden mit großer Enttäuschung und Trauer die Arbeitsstrukturen, Abhängigkeiten, der Konkurrenzdruck und die Machtspiele thematisiert, die offensichtlich zu den „normalen“ Begleiterscheinungen gehören.

Musiktherapie erscheint vielen als Ausweg und heilsame Möglichkeit, sich selber in der Musik wiederzufinden, Freude und Beziehung beim Spielen zu erleben und diese essentiellen Erfahrungen von Nähe, Verbindung und Unaussprechlichem, was die Musik für uns bereithält, wiederzufinden und damit wirksam sein zu können.

Aber auch andersherum: wie können wir Musiktherapeut:innen in unserem Beruf den Wunsch nach Auftritten, Konzerten und künstlerischen Verwirklichung ausleben und integrieren? Oder auch: finden die Künstlerinnen und Künstler mit einer seit frühester Kindheit auf Perfektion getrimmten Musikausübung in ihrem neuen Beruf das, was sie wirklich suchen?

Der von Kritikern:innen extrem kontrovers diskutierte Film begeistert mich, weil das Leben komplex und vielschichtig ist, so wie wir selbst und die Menschen mit denen wir arbeiten.

Fazit: sehr sehenswert. 

Nominiert für sechs Oscars

Ulrike Haffa-Schmidt

Ulrike Haffa-Schmidt

Ulrike Haffa-Schmidt ist Musiktherapeutin, Lehrmusiktherapeutin (DMtG), Psychoonkologin, Heilpraktikerin mit eigener Praxis und Tätigkeit in der Onkologie, Palliativstation und Psychosomatik am Klinikum Nürnberg. Mitglied im Berufsständischen Beirat der DMtG und Delegierte der DMtG für die BAG-Musiktherapie. www.musiktherapie-nuernberg.de

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