Sabine Weiß Roman Der Chirurg und die Spielfrau Rezension Musiktherapie

Der Chirurg und die Spielfrau. Ein Historischer Roman von Sabine Weiß

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Der historische Roman “Der Chirurg und die Spielfrau” von Sabine Weiß rankt sich um die (Über-)lebensgeschichte von Elena, einer Sklavin mit besonderen musikalischen Fähigkeiten, und die teils qualvollen Stationen, die sie schließlich mit ihrem späteren Ehemann, dem freiwillig aus dem Adelsstand geschiedenen Chirurgen Thonis, zusammenführen.

Mit musiktherapeutischer Brille gelesen, stößt man in diesem Roman, der sich spannend wie ein Krimi liest, auf viele Dialoge, Szenen und Hintergrundinformationen, die uns Diskussions- und Reflexionsansätze liefern, wie es nur die Kunst vermag: ohne fertige Antworten, konkretisiert im Kontext eines zwar fiktiven, aber realistisch nachgezeichneten, menschlich-allzumenschlichen Geschehens.

Die Schriftstellerin Sabine Weiß „weiß“ was sie tut. Dies ist ihr zehnter historischer Roman, und der zweite, der weit in die Geschichte der Medizin bis zur Antike zurücktaucht.

Aus Bremen und Mallorca brechen die Protagonisten – freiwillig und unfreiwillig – auf, um im von Kreuzzügen, Kriegen und Ketzertum besessenen und gebeutelten Europa ihre mit ganz unterschiedlichen Mitteln realisierte Mission zu verwirklichen: ihre Leidenschaft, anderen zu helfen, zum Beruf zu machen. Thonis als Gehilfe, später Student, des Chirurgen Magister Wilhelm, und Elena als durch die besonderen „Kräfte“ ihrer gesanglichen und musikalischen Fähigkeiten dem Sklavenstand schlussendlich entkommene Heilerin.

An diversen Stellen im Roman werden wir an so manchen Brennpunkt im Energiefeld Musik und Medizin geführt, und von dort kommen Fragen auf, die uns immer wieder beschäftigen, bis heute und wohl auch morgen noch.

Hilft Musik, die „therapeutische“ Beziehung zwischen Arzt und Patient zu stärken?

Eine Szene in Kapitel 14 schildert uns, wie der Chirurg Wilhelm von seinem einflussreichen Patienten, dem Podestà von Genua und Troubadour Rambertino Buvalelli, gesagt bekommt:

Du kennst mich besser als ich mich selbst.

Was war passiert? Rambertino ist beim Aderlass eingeschlafen, und als er erwacht, reicht der Arzt ihm seine Harfe. Nicht ein feuchtes Tuch etwa, etwas zu trinken, sondern ein musikalisches Instrument. Ich lese in der Szene Anzeichen einer etablierten Arzt-Patient-Beziehung, die der (musik)therapeutischen Beziehung nahe kommt. Die Szene war für mich Anstoß zur Reflexion über die Frage: wieweit ist eine nonverbale Beziehungsgrundlage in der Medizin wirksam? Ist sie immer vorhanden, je nachdem wie weit sie zugelassen wird? Und könnten die kreativen Therapien der Medizin hier wieder Vorbild sein für etwas, das letzterer einmal angehörte?

Musik fördert Ressourcen, Medizin besiegt das Übel?

Auch wenn Musik und Medizin in der Epoche und der Handlung, die der Roman zum Leben erweckt, noch per default Hand in Hand gelehrt und praktiziert werden, scheinen in manchen Dialogen die unterschiedlichen Denksphären der beiden Heilkünste durch. Rambertino, nach einem schweren gesundheitlichen Einbruch von Thonis behandelt und von Elena musikalisch begleitet, wendet sich an sein „Gesundheitsteam“:

Elena, Du hast mich ins Leben zurückgesungen. (…) Wilhelm, Du hast das Untier ausgemerzt.

Die Musik holt Lebenskräfte hervor, weckt oder stärkt vorhandene Ressourcen – der Mediziner heilt, indem er das Übel wegnimmt, ja in diesem Fall wegschneidet. Sabine Weiß hat hier in einer kurzen Szene den Finger auf zwei unterschiedliche Heilwelten gelegt.

Nonverbale Kommunikation erfasst „Zwischentöne“

Die Bedeutung der musizierend heilenden Sklavin Elena für Rambertino wächst schnell – besonders, als er eine weitere bei ihr ausgeprägte Fähigkeit schätzen lernt: die wahren Beweggründe und Hintergedanken seiner (politischen) Gesprächspartner wahrzunehmen. Sind die in der musiktherapeutischen Ausbildung trainierten Stärken der Beobachtung und des Zuhörens noch unbetretenes Terrain für eine Zukunft als Berater, als so etwas wie ein nonverbales Consulting?

Synästhetische Wahrnehmung und Spionagetalent

An einigen Stellen im Roman wird die Herkunft dieses Spionagetalents von Elena gestreift: es wird klar, dass Elena über eine synästhetische Fähigkeit verfügt.

Farben, die wie Gefühle in ihr aufstiegen, wenn jemand sprach. Die Farbtöne hingen auf seltsame Weise damit zusammen, wie sich jemand fühlte, und ob er die Wahrheit sagte oder log.

Es handelt sich dabei allerdings nicht, wie man erwarten könnte, um die Ton-Farb-Synästhesie, sondern um das Erfassen des Verhaltens von Personen und ihrer verbalen Äußerungen in Form von Farben.

Grundlagen der Forschung: Ausprobieren, Beobachten, Aufschreiben

Eine Szene in Kapitel 44 betritt ein für Medizin und Musiktherapie wichtiges Feld: die Forschung. Befragt von seinem Sohn Henri, „wie konnten denn Meister Wilhelm und Hugo von Lucca widerlegen, dass Eiter bei der Wundheilung förderlich“ sei, antwortet Thonis: „Durch Ausprobieren und das Aufschreiben ihrer Beobachtungen.“ Der kurze Dialog öffnet eine Tür zur Zentralität der Beobachtung als Technik in musiktherapeutischer Forschung und klinischer Praxis. Eine Grundhaltung mit langer Tradition auch in der medizinischen Diagnose, die genaue, unvoreingenommene Beobachtung des Patienten. Übertragen auf die Musiktherapie würde man vom Zuhören sprechen, Zuhören ohne ästhetisches Urteil.

Musik – das lernt doch jeder Medizinstudent im ersten Semester

Sabine Weiß recherchiert für ihre Romane auch vor Ort: „Der Chirurg und die Spielfrau“ haben sie in die Bibliotheken der medizinischen Fakultäten von Montpellier und Bologna geführt. So erfahren wir in ihren Anmerkungen zum Roman, dass die Hauptfigur Thonis dem „Chirurgen von der Weser“ nachempfunden ist, dessen Name bis heute unbekannt bleibt. Historisch belegt ist auch sein Meister, Wilhelm von Congénis, sowie die bis in die Antike zurückreichenden Schriften, aus denen Thonis und sein Rivale Amiré um die Wette zitieren, um Elena zu beeindrucken: von den Werken des arabischen Arztes Ibn Hindu bis zum Römer Celsus. All den zitierten Schriften ist gemeinsam, dass sie selbstverständlich die Musik als Teil der medizinischen Kunst lehrten.

Überlegt hatte sie gar nichts, es war einfach passiert.

Elenas Heilkünste durch Musik hingegen scheinen ihr mitgegeben zu sein, ein angeborenes Talent, das “einfach passiert”. Die Musik selbst wirkt, und Elenas Stimme. Hier findet ein ausgebildeter Musiktherapeut wenig wieder von seinem eigenen Weg durch jahrelange Ausbildung, und lebenslange Weiterbildung und Supervision.

Musiktherapie führt heute ein „Schattendasein“

Im Vergleich zur in antiken und mittelalterlichen Quellen viel zitierten, und im Roman so zentral agierenden, Heilkraft der Musik führe „die Musiktherapie heute ein Schattendasein“, so der Pressetext des Verlags Bastei Lübbe. Wenn uns Musiktherapeuten die moderne Musiktherapie als Beziehungsarbeit, als dialogierende, improvisierende, zuhörende „Kraft“, technisch von dem Konzept der wie eine Medizin verabreichten Musik weit weg scheint – unsere Profession wird in der öffentlichen Wahrnehmung wohl immer damit in Verbindung gebracht werden. Wie die Musiktherapie damit umgeht, wenn sie sich erklärt, ob sie sich mehr, oder weniger, oder überhaupt – von der oft verklärten Musikheilkunst abgrenzt, dazu liefert uns Sabine Weiß‘ schriftstellerische Beschäftigung mit der Schnittmenge zwischen Musik und Medizin so einige Denkansätze.

Zum Abschluss ein gemeinsamer Traum

Die Familie von Elena und Thonis gelangt zum Ende ihrer Geschichte wieder in Thonis‘ norddeutsche Heimat. In Lüneburg, das soeben unter die Herrschaft von Kaiser Friedrich II. gelangt ist, treffen die beiden Protagonisten auf den Monarchen. Er wird Zeuge ihrer Heilkunst, als sie Verwundete und Kranke versorgen, und sagt ihnen zu, sie sollen

ein derartiges Hospital bekommen, und alles was Ihr für nötig erachtet, wenn Ihr diese Verbindung (Anm.: die von Musik und Medizin) für derart Erfolg versprechend haltet.

Ein Traum wird wahr zum Happy End einer langen Reise durch Europa und seine auf vielen Ebenen rivalisierenden Mächte: der Traum von einem Krankenhaus, in dem Musik und Medizin gleichberechtigt praktiziert werden. Wie fern, oder wie nah, ist dieser Traum an der Vision einer modernen Musiktherapie, die in unserer Gesellschaft die Anerkennung und Stellung genießt, die wir uns wünschen?

Fazit: Detailfreudig erzählte Geschichte aus einer Epoche, in der Musik und Medizin stets Seite an Seite gingen.

Sabine Weiß: Der Chirurg und die Spielfrau. Historischer Roman. Köln: Bastei Lübbe, 2020. 590 S. Taschenbuch, 11 Euro.

Headerfoto: Detail der Umschlagsgestaltung von Johannes Wiebel, punchdesign München, mit freundlicher Genehmigung des Bastei Lübbe Verlags.

Bettina Eichmanns

Bettina Eichmanns

Musiktherapeutin (DMTG, AIM), Musik­wissen­schaft­lerin, zertifizierte Seminarleiterin für Benenzon-Musiktherapie, freie Dozentin. Klinischer und Forschungs-Schwerpunkt: Einzel- und Gruppentherapie in den Bereichen Wachkoma und Gerontopsychiatrie. Musiktherapeutin in der Abteilung für Personen im Wachkoma der Fondazione Don Gnocchi Mailand.

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