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Das aktuelle Würzburger Forschungsprojekt ‘Homeside’

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Ein Interview von Volker Bernius –

Seit Herbst 2019 arbeitet ein Team von neun Musiktherapeut.innen, Psychologen und Gesundheitsökonomen unter der Leitung von Prof. Dr. Thomas Wosch in einem international aufgesetzten Forschungsprojekt namens Homeside. Die Studie wird von der EU und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziell unterstützt und gefördert.

Corona bedingt musste das Projekt ein paar Monate unterbrochen werden, seit Herbst 2020 wird es online durchgeführt. Deshalb gibt es zum Projekt eine wichtige Neuigkeit: es werden aktuell Teilnehmer.innen aus ganz Deutschland aufgenommen! Mehr Informationen zur Studie und Teilnahmemöglichkeit hier: https://ifas.fhws.de/homeside/.

Die überwiegende Mehrheit von Menschen mit Demenz wird zuhause gepflegt. Das übernehmen zu einem großen Teil Familienmitglieder, die Angehörigen also. Im Vordergrund des Projekts Homeside stehen die pflegenden Angehörigen. Für sie entstehen im Alltag viele Herausforderungen – oft vermindert das die Lebensqualität und auch Angehörige werden krank. Nun sollen sie durch Musiktherapeut.innen befähigt werden, Musik im Alltag bewusster einsetzen zu können, um die Kommunikation, die Beziehung und auch die Regulation ihres betroffenen Angehörigen gemeinsam verbessern zu können. Wie läuft das Projekt Homeside praktisch ab?

Einbezogen sind alle Bereiche der Musik: das Hören, das Singen, das Bewegen nach Musik oder – wenn Instrumente zur Verfügung stehen und es passt – selbst Musik machen. Wir gehen davon aus, was erstmal da ist und wo die Präferenz liegt – eher auf dem Musikhören oder auf dem Singen oder dem Bewegen. Hat jemand viel getanzt, wie kann man das jetzt wieder unter anderen Bedingungen, zum Beispiel bei körperlichen Beeinträchtigungen, umsetzen. Auch Sitztänze sind ja gut einsetzbar. Das soll bewusst aktiviert und eingebracht werden. Es können auch viele Erinnerungsmomente miteinander geteilt werden.

Ein Beispiel: Ehepaare, die Jahrzehnte zusammenleben, erzählen sich etwas aus ihrer Kindheit, Jugend, was der andere gar nicht wusste. Oder: Irgendwie hat das Singen keine Rolle mehr gespielt, derjenige war aber im Kirchenchor, im Schulchor: “Ach was, das hast du?”, und dann fängt der Demenzbetroffene auf einmal an ein Lied zu singen, was ihm in Erinnerung ist, und auf einmal fangen pflegende Angehörige und die Musiktherapeutin an nachzuschlagen, was ist denn das überhaupt, wo kommt das her.

… das heißt auf einmal, der Demenzbetroffene bringt den anderen etwas bei?

Das ist natürlich ein Kompetenzerleben und eine kognitive Leistung, die hoch gewünscht ist, das bei diesen Abbauprozessen in der Demenz mit einzubringen. Es verbessert die Beziehung, stärkt das bewusste Kommunizieren. Das ist dann wichtig, wenn jemand völlig lethargisch, inaktiv ist oder auch übererregt, agitiert. In der Anleitung für die Angehörigen geht es darum, diese Elemente dann im Alltag einzusetzen und bewusst damit zu arbeiten.

Welche Aufgabe haben die Musiktherapeut.innen?

Die Musiktherapeut.innen stabilisieren die vorhandenen Kompetenzen und helfen dabei sie auszubauen. Und finden aufgrund der ganzheitlichen Sicht des Musiktherapeuten auch Lücken, die noch schlummern und angestoßen werden können. Bei drei Terminen á zwei Stunden innerhalb von drei Monaten entsteht ein direkter Kontakt, dazwischen gibt es alle zwei Wochen die Möglichkeit für telefonische Nach- und Rückfragen, um mit dieser Begleitung den Einsatz von Musik im Alltag zu verbessern und auszuweiten.

Homeside Forschungsprojekt Würzburg Musiktherapie und Demenz
Foto: Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt

Die pflegenden Angehörigen führen Tagebücher und kennzeichnen kurz durch Ankreuzen und Smileys, was auf welche Weise wie gemacht wurde. Dazu werden umfangreiche Tests von Psychologen durchgeführt. Es werden Demenzsymptome abgefragt, Lebensqualität, Kompetenzen. Eine Besonderheit in Würzburg ist, dass auch ökonomische Aspekte untersucht werden. Hier wird die Kosteneffektivität der Maßnahmen errechnet. In weiteren Erhebungen werden Rahmenbedingungen erfasst wie Selbstständigkeit und auch Arztbesuche.

 

Nicht nur Würzburg ist ein Zentrum für Homeside, sondern das internationale Forschungsprojekt findet ja gleichzeitig in Melbourne (Australien), Cambridge (GB), Oslo (Norwegen) und Krakau (Polen) statt. Das bedeutet aber, dass die Anleitungen dazu gleich sind, die jeweilige Realisierung aufgrund der kulturellen und persönlichen Voraussetzungen auch sehr unterschiedlich zum Beispiel in der konkreten Liedauswahl ist…

Die Vorgehensweise ist vergleichbar, die Realisierung dann unterschiedlich. Und durch die fünf Standorte … schaffen wir die notwendige Zahl von eintausend Teilnehmern, die brauchen wir dort, um den aktuellen Anforderungen der einbezogenen Versorgungssysteme gerecht zu werden. … Denn am Ende soll ja eine randomisiert kontrollierte Wirkungsstudie stehen.

Nun könnten berufspolitisch engagierte Kritiker sagen: Bei Homeside erhalten die Angehörigen mit Hilfe von Musiktherapeut.innen Kompetenzen für die Versorgung und Betreuung. Dann brauchte es ja aber keine Musiktherapeut.innen mehr, die Menschen mit Demenz therapeutisch anregen – die Berufsgruppe wird überflüssig.

Ich habe mal ausgerechnet: Um die Demenzbetroffenen in Deutschland 2050 adäquat musiktherapeutisch zu versorgen, wären 20.000 Musiktherapeut.innen nötig – nur in Deutschland. Solche Zahlen werden wir nicht erreichen. Wir können gar nicht so viele ausbilden nur für diesen Bereich. Das zweite ist der Kostenfaktor: Wir können nicht erwarten, dass wir 20.000 Musiktherapeut.innen in Altenheimen im Jahr 2050 haben werden. Und wenn wir erfolgreich mit den drei Monaten sind, dann kommt es ja auch darauf an weiter zu aktualisieren, weil die Demenz fortschreitet. Was zum Beispiel in den drei Monaten als Gespräch noch möglich war, was angeregt werden konnte, ist nicht mehr möglich, und man kann nur noch nonverbal mit Berührung, mit Singen, Summen umgehen. Das heißt, da brauchen wir weitere Kurse und wir brauchen auch regelmäßig Musiktherapeut.innen. Was aber das Wichtigste ist, ist, dass wir Angehörige kompetent begleiten können, ihre Ressourcen maximal einzusetzen und der absolut herausfordernden Änderung angemessen begegnen können –  welches Verhalten und welche Kommunikation mit dem geliebten Menschen mit Demenz benötigt wird.

Das heißt also, dass der Bedarf an musiktherapeutischer Versorgung bleiben und dringend benötigt wird?

Wir haben aktuell in Deutschland ungefähr 1,3 Millionen pflegende Angehörige, die sich um Menschen mit Demenz kümmern und es wird sich verdoppeln. Und 1,3 Millionen Menschen auszubilden, das ist ein neuer Arbeitsmarkt ohne Ende. Das ist nur ein Teil der Demenzversorgung, welche die pflegenden Angehörigen und jede Minute des Alltags unterstützten… und in den wirklich herausfordernden Fällen, da brauchen wir den Musiktherapeuten, der mit der Einzelintervention unterstützt. Die Einzel- und Gruppentherapien zur direkten Bearbeitung und Begleitung starker Symptome der Demenz in der Gerontopsychiatrie, im Altenheim und im wöchentlichen Setting in der ambulanten Versorgung bleiben davon unberührt.

Das ausführliche Interview von Volker Bernius mit Prof. Dr. Thomas Wosch finden Sie in der Musiktherapeutischen Umschau, 3-2020, S. 217 – 282, und hier als pdf-Download.

Thomas Wosch

Thomas Wosch

Prof. Dr. Thomas Wosch studierte Musikwissenschaft (Humboldt Universität zu Berlin), Psychologie und Soziologie (Freie Universität Berlin) und Musiktherapie (Akademie für Angewandte Musiktherapie Crossen). Musiktherapeutisch tätig in der Psychiatrie. Professor für Musiktherapie in der Sozialen Arbeit, dann Studien­gangsleiter des Master Musiktherapie bei Behinderung und Demenz, an der Hochschule für angewandte Wissen­schaften Würzburg-Schweinfurt (bis 2019). Deutscher Leiter des internationalen Forschungs­projekts Homeside, bereitet derzeit einen Master Musiktherapie für Empowerment und Inklusion vor. https://ifas.fhws.de/homeside/

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