Wenn die beiden Musiktherapeutinnen Christine Back und Ulrike Haffa-Schmidt in Nürnberg ins Kino gehen, setzen sie ab und zu ihre Musiktherapeutenbrille auf. Dabei entdecken sie immer wieder interessante Berührungspunkte zu ihrem Berufsfeld.
A Complete Unknown
- Kinostart: 27. Februar 2025
- Erscheinungsjahr: 2024
- Dauer: 141 Minuten
- Regie: James Mangold
- Darsteller: Timothée Chalamet, Edward Norton, Elle Fanning, Monica Barbaro
- Genre: Biopic, Musik
- Produktionsland: USA
Flashbacks und persönliche Gänsehautmomente
Ziemlich am Anfang des Films sagt Joan Baez zu Bob Dylan: „Du bist ein ganz schönes Arschloch, Bob“. Und ja, das ist er, aber nicht nur!

Die Handlung
Der junge Bob Dylan reist 1961 nach New York, um sein Vorbild, den nervenkranken Folksänger Woody Guthrie, im Sanatorium zu besuchen. Dort trifft er auch auf Pete Seeger. Sie fordern ihn auf, sein für Woody Guthrie getextetes und komponiertes Lied zu singen. Ab da war ich dem Film-Bob Dylan bereits komplett verfallen.
Dylan bleibt in New York und, gefördert von Pete Seeger, nimmt er Kontakt zur dortigen Folkszene auf, spielt in vielen Clubs, covert Folksongs und versucht gleichzeitig, mit seinen eigenen Songs bekannt zu werden. Er verliebt sich in Sylvie Russo, eine politische Aktivisten und zieht bei ihr ein.
In dieser Phase schreibt er viele seiner intensiven Songs, die bei Musikmanagern und beim Publikum gut ankommen. Bei einem seiner Auftritte lernt er die bereits bekannte Joan Baez kennen, die ihn auf ihr Folkfestival nach Monterrey einlädt. Eine gemeinsame Tournee und Auftritte auf dem Newport Folkfestival folgen. Wir begleiten Bob Dylan beim Beginn seiner Fahrt aufnehmenden Karriere, und das erleben wir vor allem über die Musik und seine Auftritte. Der Film endet mit seiner kurzen Show in Newport, wo er bewusst und provozierend mit der Folktradition bricht.
Chronologisch werden Bob Dylans wichtige Entwicklungen und Stationen der New Yorker Jahre von 1961 bis 1965 erzählt. Enttäuschend ist, dass wir nichts Neues über ihn oder über sein Denken und Fühlen kennenlernen. Er bleibt mir hinter seiner Sonnenbrille fremd und unnahbar, „a complete unknown“.
ÜBERZEUGENDE MUSIKSZENEN
Die Stärke des Films sind die Musikszenen. Timothée Chalamet als Dylan hat ein unglaubliches Charisma, genauso wie Monica Barbaro, die Joan Baez verkörpert. Im Verlauf der Geschichte interpretieren sie einzeln und gemeinsam viele seiner damaligen und immer noch frischen Songs wie „Mr. Tambourine Man“, „It Ain’t Me, Babe“, „The Times They are a-Changin’“, „Don’t Think Twice, It’s All Right“ oder „Like a Rolling Stone“. Das kommt sehr überzeugend und intensiv rüber. Noch immer erschreckend aktuell angesichts des dramatischen weltpolitischen Geschehens sind die beiden Lieder „Blowin’ in the Wind“ und „Masters of War“.
Was macht das mit mir? Der Film ist meine persönliche Musiktherapiestunde. Jedes Lied katapultiert mich zurück in meine eigene Zeit des Erwachsenwerdens: Sich selbst Gitarre beibringen und mühselig die genuschelten englischen Texte raushören, der Wunsch aus beengenden Strukturen auszubrechen, das Rauchen (ja, es wird sehr viel geraucht in dem Film) als Sinnbild für Freiheit und Rebellion, das Wahrnehmen von Ungerechtigkeiten, die Suche nach einer eigenen Identität und nach neuen Gemeinschaften außerhalb der Familie. Viele Texte habe ich damals nur sehr rudimentär verstanden. Direkt angekommen ist aber ein neues Lebensgefühl und die große Anziehungskraft seiner Musik.
Wer in der Kinder- und Jugendpsychiatrie arbeitet, weiß, wie identitätsstiftend Musik ist und die Zugehörigkeit zu einer Peer-group markiert. Bei mir war das definitiv die Musik Bob Dylans und anderer Folk- und Protestmusiker:innen. Wir Musiktherapeut:innen wissen und erfahren täglich in unserer Arbeit, dass Musik, die wir in unserer Jugend hörten, bei den meisten Menschen am intensivsten emotional besetzt ist. Daher regen wir Patient:innen an, sich an emotionale und bedeutsame musikalische Momente zu erinnern. Wir fragen nach der ersten selbst gekauften Schallplatte oder CD, nach Musik, die mit Verliebtsein oder Liebeskummer verbunden ist. Einige besonders emotionale Flashbacks hat mir dieser Film definitiv verschafft.
Generationen von Jugendlichen lernten und lernen noch immer Gitarre mit „Blowin’ in The Wind“ und „Don’t Think Twice, It’s All Right“. Ich frage mich, was diese über 60 Jahre alten Songs heute mit ihnen machen. Lernen angehende und zukünftige Musiktherapeut:innen vielleicht nur diese Lieder, damit sie bei mir in 10-20 Jahren emotionale Momente aktivieren?
Auch eine nie ganz verheilte Wunde hat „Like a Complete Unknown“ aufgerissen. Am 1. Juli 1978 spielte Bob Dylan auf dem Zeppelinfeld des Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg ein legendäres Konzert vor 80000 Zuhörer:innen. Ich war nicht dabei, denn ausgerechnet an diesem Tag war, weniger als 20 km entfernt, meine Abiturfeier.
Fazit: Ab ins Kino!