Wenn die beiden Musiktherapeutinnen Christine Back und Ulrike Haffa-Schmidt in Nürnberg ins Kino gehen, setzen sie ab und zu ihre Musiktherapeutenbrille auf. Dabei entdecken sie immer wieder interessante Berührungspunkte zu ihrem Berufsfeld.
Joker Folie à Deux
- Kinostart: 2. Oktober 2024
- Erscheinungsjahr: 2024
- Dauer: 138 Minuten
- Regie: Todd Phillips
- Drehbuch: Todd Phillips, Scott Silver
- Darsteller: Joaquin Phoenix, Lady Gaga, Jackie Sullivan, Maryanne Stewart, u.a.
- Genre: Spielfilm mit Musical-Elementen
- Produktionsland: USA
Zum Kinostart von Joker 2
Der Trailer beginnt grau, düster. Nächste Szene: ein Therapiechor. Erste Blickkontakte zwischen Joker (Joaquin Phoenix) und Harley Quinn (Lady Gaga). Danach heißt es: „Wir benutzen Musik, um vollkommen zu werden. Um unsere gebrochenen Seelen auszugleichen.“ Eine weibliche Stimme zum Bild von Harley Quinn: „Ich bin ein Niemand. Ich habe nichts aus meinem Leben gemacht. Anders als du.“ Nächste Einstellung: Joker, wie ein Star, im Rampenlicht einer Bühne. Im Vorfeld lese ich im Internet: „Joker: Folie à Deux“ soll ein Film über die heilende Kraft des Gesangs sein.“ (Filmkritik von Sassan Niasseri, Rolling Stone, 30.09.2024) Und es heißt, dass die Autoren die Geschichte als einen Musicalfilm gestaltet haben. Ich merke, wie da für mich etwas nicht zusammenpasst, und dass da zwei fremde Welten aufeinanderprallen…

Mit einer gehörigen Portion Skepsis sitze ich am Feiertag zum Kinostart um 11:55 Uhr im Kino. Ich wage mich an ein Filmgenre, das ich eigentlich meide und ablehne. Auch Ulli hat zurückgemeldet, der Film sei nichts für sie, FSK ab 16, gewaltaffine Protagonisten, drastische Gewaltszenen und -fantasien. Definitiv ist das kein Film, der mir im Kontext mit Musiktherapie spontan in den Sinn kommen würde. Als ich nach gut zwei Stunden aufstehe und in das herbstlich nass-kalte Nürnberg hinausgehe, bin ich voll mit den unterschiedlichsten Eindrücken und Gedanken. Jetzt, beim Schreiben, entscheide ich mich, meine Musiktherapie-Brille aufzusetzen und fokussiere mich auf diese Aspekte.
Der Film ist eine Fortsetzung der US-amerikanischen Joker-Verfilmung von Todd Phillips aus dem Jahre 2019 und handelt von Arthur Fleck, alias Joker, der nach seinen Gewalttaten in der forensischen Anstalt von Arkham einsitzt, sich dort in die vermeintliche Patientin Harley Quinn verliebt und dem nun, nach zwei Jahren, der Prozess gemacht wird.
„Folie à Deux“ (frz. „Geistesstörung zu zweit“), bezeichnet eine Störung aus der Psychiatrie (DSM-IV 297.3), bei der eine nicht primär wahnhafte Person ganz oder teilweise die Wahnsymptomatik einer nahestehenden Person übernimmt. Ähnlich wie beim “Pas de deux” im Ballett, finden sich zwei Solisten, die sich entschließen, den “Schritt zu zweit” zu tanzen. Im Film ist dies „das Neue“ für Joker, dass er durch den Kontakt mit Harley Quinn nicht mehr allein ist. Es ist der, Veränderung initialisierende Impuls. Und es ist die Musik, mit der dieser Impuls im Film startet. Joker kommt auf dem Weg zu seiner Rechtsanwältin am Zimmer eines Therapiechores vorbei. Dort sind fröhliche Gospelklänge zu hören. Ein kurzer Blickkontakt zu Harley, die in diesem Chor mitsingt, noch einmal im Umdrehen, und der tragisch-trübe Farbfilter des Films bekommt Farbtupfer in Form von bunten Regenschirmen. So ein Musik-Initialfunke für Veränderung und Gemeinschaft passiert später auch noch einmal bei einer Rebellion der eingesperrten Männer.
Joker bekommt mit Harley eine Verbündete – und umgekehrt. Die beiden stecken sich gegenseitig an, halten sich fest, vereinigen sich, zeugen neues Leben, treiben sich in ihren individuellen Motivationen voran und stopfen ihre jeweils eigenen Löcher mit den Projektionen des anderen. Es ist das klassische Spiel zwischen der Akzeptanz von Realität und dem Rausch von Fantasie, eine narzisstische Störung, ein Selbstwertkonflikt der zwischen Größenselbst und Minderwertigkeit changiert. Im Film wird dies verstörend inszeniert über Musicalsequenzen mit Joker und Harley, z.B. als tanzend und singendes Paar a la Fred Astaire und Ginger Rogers, als TV Show Entertainer oder als Rockstars auf einer imaginären Stadionbühne. Doch danach schlagen Protagonisten und Zuschauer wieder hart auf in der Tragik der dahinter liegenden Geschichte von frühkindlichen Traumata, Ohnmacht, Missbrauch und Gewalt, die wieder zu Gewalt, Unverständnis und Zerstörung führt in einem scheinbar endlosen Kreislauf. Wer möchte da nicht auf Knopfdruck ein anderes Programm starten…
Nach meiner Einschätzung ist Todd Phillips und Scott Silver ein gelungener Kunstgriff geglückt, dadurch, dass sie im Film die Musik als Gegenpart zur Realität inszeniert haben. Musik bringt eine Menge dafür mit. In der Musikwelt gibt es Stars, die von sich selbst überzeugt sein müssen, braucht es Publikum, Fans und Applaus. (Das hat Joker im Film auch.) Und es soll eine gute „Show“ passieren. Man winkt, wie ein Torero, mit dem roten Tuch „Entertainment“, während die bedrohliche Realität unbemerkt nebenan abläuft. Das Phänomen „Musik als Flucht vor der Realität“ kennen wir auch in der Musiktherapie.
Musik, als ein grundsätzlich erst einmal wertfreies Geschehen, eignet sich daneben sehr gut, sie mit Inhalten zu füllen. Ich denke gerade an Zuschreibungen wie, wann ist Musik Kunst, Gedudel, Manipulation oder vielleicht auch Therapie? Auch in der Musiktherapie „benutzen“ wir Musik und müssen immer wieder kritisch hinterfragen, wie und wofür. Mit welchen Deutungen belegen wir entstehende Musik, wie ordnen wir das Gehörte ein, wovon lassen wir uns selbst ablenken oder was wollen wir selbst „überhören“? Dies erfordert eine hohe Achtsamkeit von uns, wo wir doch wissen, auf welch dünnem Eis sich Musik bewegen kann, bezüglich dem, was sie auslöst oder dem, was wir aus ihr machen.
Und daneben kann Musik ja durchaus Realität schöner machen, PatientInnen von Beschwernissen entlasten, Hoffnung bewirken, Ressourcen wiederbeleben. Das passiert auch im Film. Die Protagonisten können für kurze Momente Luft holen, bevor das Arrangement die Musik mit dissonanten Klängen zermürbt (wirklich gelungen umgesetzt vom Komponisten Hildur Guðnadóttir) und die Realität doch alle wieder einholt. Am Schluss des Filmes sagt jemand, dass es keinen Joker gibt, quasi kein Ass im Ärmel, das das Spiel rettet. Harley gesteht: „Alles, was wir hatten, war die Fantasie.“, und die, soviel sei verraten, verhindert nicht den tragischen Ausgang des Films. Dafür wirkt zu viel von dem verstörenden „Folie à Deux“.
Alles in allem habe ich durch den Film wirklich viele Anregungen bekommen, was ich nicht vermutet hatte. Und dennoch, mit einem bin ich mir sicher. Falls in Gotham City eine Musiktherapiestelle frei wird, werde ich dankend ablehnen. Das ist mir dann doch zu gruselig, trotz aller Überraschung und Vielschichtigkeit im Film.
Fazit: Ein Film, den man nicht unbedingt mit Musiktherapie assoziiert, der aber auf eine düster-fragile Art sehr nachdenklich machen kann.
Und: Aktueller denn je – „Crescendo #makemusicnotwar“ unser allererster Blogbeitrag! Im Rahmen israelisch-palästinensischer Friedensverhandlungen begegnen sich jugendliche Musiker:innen beider Länder, um ein gemeinsames Konzert vorzubereiten.
„Crescendo” ist verfügbar in vielen Streamingdiensten und auf DVD.