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Musiktherapie auf der geschlossenen psychiatrischen Akutstation

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Die Musiktherapie auf einer geschlossenen psychiatrischen Akutstation richtet sich vor allem an akutpsychiatrische Patienten, die sonst an anderen Therapien wenig teilnehmen. Die Patienten sind noch akut, nehmen aber trotzdem nach ihren Möglichkeiten teil.

Die Musiktherapie findet hier immer an zwei Vormittagen offen an einem Tisch im Tagesraum der Station statt. Die Stimmung der Station wird direkt spürbar. Die Patienten kommen und gehen nach Belieben, die Teilnahme ist frei. Jede Stunde gibt es eine neue Gruppenzusammenstellung.

Die musiktherapeutischen Mittel werden immer situativ gewählt und die musikalische Arbeit ist oft basal. Die Teilnahme kann rezeptiv (Musik für die Patienten) und aktiv (Musik mit den Patienten) sein. Die Arbeitsweise beinhaltet ein einfaches strukturiertes Angebot:

  • gemeinsames Singen und Spielen von Liedern mit den Patienten. Hierfür werden Liederhefte und Instrumente auf dem Tisch im Tagesraum zur Verfügung gestellt.
  • Musik wird vorgetragen, Patienten hören zu. Meist beruhigende Improvisationen, Geigenspiel, Singen für die Patienten

Im Zentrum der musiktherapeutischen Ziele und Interventionstechniken steht bei dieser Methode ein musikalisches Genussmoment, basierend auf einer Definition von Musikgenuss, die sich an dem Zusammenhang von Musiktherapie und Selbstpsychologie orientiert. Sobald dies spürbar wird und der Patient sich diesem Genuss öffnet, wird er gezielt eingesetzt zum Aufbau einer narzisstischen Übertragung, zum Selbsterleben im Hier und Jetzt, zur zwischenmenschlichen Kontaktaufnahme und Kommunikationsförderung, zum Realitätsbezug sowie zur Aktivierung bei apathischen Patienten bzw. zur Beruhigung bei unruhigen Patienten.

Das Vorgehen der Musiktherapie ist hier vergleichbar mit einer gemütlichen Runde, in der die Therapeutin Gitarre spielt und mit den Patienten Lieder singt; manche trommeln zu den Liedern oder hören nur zu. Zwischendurch unterhalten wir uns oder schweigen. Kaffee trinken, essen, stricken, malen, alles ist bei dieser Musiktherapie erlaubt, solange es keinen anderen stört. Dieses inoffizielle Therapiemodell hat sich jedoch gerade für diese sehr kranken Menschen auf der geschlossen psychiatrischen Station als sehr effektive Methode erwiesen, was auch der Fall von Herrn C näher beschreibt.

Herr C

Herr C* war zum Zeitpunkt der Therapie etwas über zwanzig Jahre alt und in immer wiederkehrenden Abständen in der Klinik. So gehört Herr C zu den sogenannten chronifizierten Patienten, die regelmäßig akut psychisch erkranken. Laut Diagnose hat Herr C eine Borderline Persönlichkeitsstörung, was sich bei ihm vor allem darin äußert, dass er sehr schwierig mit Spannungen umgehen kann und darum zu stark impulsivem, emotional instabilem Verhalten neigt. Dies äußert sich auch in stark wechselnden Beziehungen mit anderen Menschen, die entweder bester Freund oder größter Feind sind. Um seine inneren Anspannungen auszugleichen, verletzt Herr C sich oftmals selbst. Er ritzt sich dann in die Arme und Beine. In besonders akuten Phasen neigt er zu stark suizidalem Verhalten und versucht fortwährend sich in irgendeiner Art selbst umzubringen. In solchen Phasen darf er die Station verlassen, oder er wird in einem Raum isoliert und an einem Bett fest fixiert, um das Schlimmste zu vermeiden. Herr C leidet zudem an starken Depressionen und ist eigentlich die meiste Zeit in einer sehr gedrückten Stimmung. Erschwerend kommt eine Art Anfallsleiden hinzu, bei der der Patient die Kontrolle über den eigenen Körper verliert und ungewollt Arme und Beine bewegt.
Herr C macht eine Ausbildung, von der er aufgrund seiner Erkrankung momentan pausiert.

Musiktherapie

Herr C wird oft auf der geschlossen psychiatrischen Akutstation aufgenommen. Herr C kennt das Musiktherapiesetting auf der Station und kennt mich selbst zusätzlich vom Sehen auf dem Klinikgelände schon seit langer Zeit. Er kommt hin und wieder zur Musiktherapie, setzt sich jedoch immer an einen Nebentisch, das heißt nie direkt an den Tisch der Musiktherapierunde, sieht weg, wenn ich ihn anspreche, und reagiert dann nicht.
Bei einem Klinikaufenthalt, als er wieder sehr akut suizidal ist, kommt er jedoch ganz kurz zu der Musiktherapiegruppe an den Tisch und ich frage ihn, ob er mitsingen möchte. Er nimmt sogar einen Liedtext und singt kaum hörbar mit. Als ich ihn nach einem Liederwunsch frage, hat er keinen. Er bleibt jedoch noch eine Weile und geht dann still wieder weg.
In der nächsten Musiktherapiestunde läuft Herr C sehr beschäftigt immer wieder an der Musiktherapiegruppe vorbei in die Küche und wieder zurück zum Zimmer. Irgendwann setzt er sich jedoch dann plötzlich direkt an den Tisch der Musiktherapierunde. Als ich ihn zur Teilnahme einlade, sehe ich beinahe etwas Panik in seinem Gesicht, und ich nehme alles sofort zurück. Ich biete ihm an, einfach nur dabei zu sitzen und zu zuhören. Er müsse sich kein Lied wünschen und nicht mitsingen. Ich wolle ihm keinen Stress bereiten, da ich merke, dass ihm das Singen und Reden Stress bereite. Vielmehr wolle ich ihm Genuss und Entspannung bieten und wenn dies beim Zuhören und Zusehen gelinge, sei ich sehr zufrieden. Nachdem ich dies gesagt habe, sackt Herr C vor Erleichterung mit einem Seufzen zusammen und lächelt mich an. Er sagt kurz „Danke“ und bleibt den Rest der Stunde still sitzen. Ich sehe jedoch, dass er alles genau beobachtet und der Musik sehr gut zuhört. Er wirkt nicht abwesend.

In der darauffolgenden Musiktherapiestunden setzt Herr C sich anfangs direkt neben mich. Doch schon nach dem ersten Lied setzt er sich um. Wahrscheinlich war dies zu viel Nähe. Er lässt mir über eine Mitpatientin ausrichten, dass er heute einen Liederwunsch habe, nämlich „Nehmt Abschied Brüder“, aber erst für das Ende der Stunde. Er setzt sich an den Nebentisch, sieht hin und wieder scheu zu mir herüber, hört jedoch allen Liedern aufmerksam zu. Als wir am Ende der Stunde sein Wunschlied singen, wird sein Blick ganz gerührt und er bedankt sich aufrichtig bei mir für das Lied. Er spricht wieder kaum mit mir, aber die Musik sagt genug zwischen uns. Ich spüre, wie er Kontakt zu mir sucht, weil ihn die Musik sehr zu beruhigen scheint, aber wie er Angst vor zu viel Nähe hat und deswegen in einem Zwiespalt steckt. Im Musikhören mit Abstand kann er jedoch beides in Sicherheit erleben.

Hiernach wird er entlassen.

Ein halbes Jahr später wird Herr C wieder in der geschlossenen Station aufgenommen. Er knüpft hier erstaunlicherweise direkt an unsere Beziehungsbasis von seinem Voraufenthalt an. Er sitzt in der Musiktherapiestunde immer nur dabei und hört zu. Ich sage ihm immer wieder bestätigend, dass er weiß, dass er bei mir nichts muss, aber jederzeit darf.
In einer Stunde gesteht er mir, was sein Lieblingslied sei und wünscht sich, dass ich es für ihn singe. Von da an singe ich jedes Mal, wenn Herr C zur Musiktherapie kommt, dieses Lied für ihn. Herr C lächelt mich dabei jedes Mal an. Schleichend beginnt Herr C, hin und wieder sehr leise, kaum hörbar mitzusingen, aber nur manchmal. Oft sitzt er auch einfach nur dabei. Hin und wieder wünscht er sich neben seinem Lieblingslied noch ein Lied von Peter Maffay. Herr C bleibt drei Monate auf dieser Station und in jeder Musiktherapiestunde singe ich weiterhin für ihn sein Lieblingslied. Ich habe manchmal das Gefühl, es ist für ihn, wie eine Dosis ‚Umsorgt werden‘, die er sich abholt. Manchmal geht er direkt nach dem Lied wieder.

Fazit

Herr C erfährt durch die Aufhebung eines ‚Teilnahmezwangs‘ Erleichterung und kann sich dadurch ganz dem Musikgenuss hingeben und sich entspannen. Als ich ihm dies verbal auch anbiete, zeigt er mir mit seinem „Danke“, dass ich ihn verstanden habe und dass Vertrauen zwischen uns wächst. So kann Herr C anfangen, mich als idealisiertes Objekt anzunehmen, das ihm Sicherheit bietet und ihn nicht überfordert. Bei seinem kaum hörbaren Mitsingen habe ich immer das Gefühl, Herr C wolle stimmlich mit mir eins werden, ‚in mich hinein kriechen‘. Die Sehnsucht nach Verschmelzung kommt hier zum Tragen und das Bedienen der Verschmelzung im musikalischen Moment wirkt hier als therapeutisches Mittel.

* Initiale und Hinweise auf persönliche Daten wurden von der Autorin geändert.

Eva Terbuyken-Röhm

Eva Terbuyken-Röhm

Dr. Eva Terbuyken-Röhm studierte Geige und Musiktherapie am Conservatorium Enschede (NL) sowie klinische Musiktherapie an der Universität Münster. Sie promovierte an der Universität Münster bei Prof. R. Tüpker zum Thema „Narzissmus in der Musiktherapie. Der narzisstische Musikgenuss in der Musiktherapie auf geschlossen psychiatrischen Stationen.“ mit erfolgreichem Abschluss (Dr. phil.). Neben der Kinder­musik­therapie erwarb sie Erfahrungen im Bereich Geronto­psychiatrie und Forensik, in der Kombination Musiktherapie und Logopädie sowie Musiktherapie mit Menschen mit Behinderungen. Musiktherapeutin in der Erwachsenen­psychiatrie der LVR-Klinik Viersen mit dem Schwerpunkt Musiktherapie auf geschlossen psychiatrischen Stationen.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. René Freermann

    Hi Eva,

    eine sehr schöne Geschichte. Ich arbeite auch mit psychisch kranken Menschen. Toll geschrieben
    ganz liebe Grüße, René

  2. Christina Shamel

    Großartig! Vielen Dank für diesen wertvollen Beitrag!!!

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